Meilenstein 1982

The Pretenders: Learning To Crawl

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Meilenstein 08 The Pretenders
(Bild: Warner / Paul Cox)

Ab 1976/77 verpassten Londoner Bands wie die Sex Pistols, The Damned oder The Clash der Rockmusik einen heftigen Tritt in den Allerwertesten. Die Texte von Johnny Rotten, Dave Vanian und Joe Strummer provozierten, und mit lauten wie rauen Gitarren, Drums und Bässe sagte man u. a. dem pompösen Hard- und Progrock den Kampf an. Dazu kamen schräge Klamotten und Frisuren, möglichst schrill, bunt, kaputt und auf jeden Fall anders als der Rest der Menschheit.

Mittendrin: die Amerikanerin Chrissie Hynde, die bereits in den frühen 70er Jahren von Akron, Ohio in die britische Hauptstadt gezogen war. Sie arbeitete zunächst als Journalistin für den New Musical Express (NME) und landete schließlich in einem Klamotten-Shop auf der King‘s Road. Der hieß schlicht aber deutlich „Sex“ und avancierte mit seinen prominenten Kunden und Mitarbeitern zu einem Ausgangspunkt der Punk-Bewegung. Angeregt durch die Londoner Szene, gründete Hynde, die bereits in den USA Musik gemacht hatte, im Frühjahr 1978 The Pretenders. Neben der Sängerin und Gitarristin gehörten Pete Farndon (b), James Honeyman-Scott (g) und Martin Chambers (dr) zum Lineup.

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Und die Dinge liefen von Beginn an gut. Nach erfolgreichen Singles erreichte das Debütalbum ,Pretenders‘ Rang 1 der britischen Charts. Und das mit einem Mix aus schnellen Rockern und melodischeren Songs mit Hitpotential. Hyndes eher tiefe Stimme war von Beginn an das Markenzeichen, das von angezerrten Gitarren und einem geraden Bass-/Drum-Grooves getragen wurde. Schrägere Zwischentöne und auch mal Keyboards färbten die Songs. Mit dem selben Rezept landete ein Jahr später ,Pretenders II‘ in den Top10.

Das Pretenders-Album schlechthin erschien dann im Januar 1984. Doch der Weg dorthin war für Chrissie Hynde und ihre Band ein schwerer. Der Drogenkonsum von Bassist Pete Farndon führte zu seinem Rausschmiss. Zwei Tage später, am 16. Juni 1982, starb Gitarrist James Honeyman-Scott an durch Kokain induziertem Herzversagen. Und schließlich ertrank Farndon am 14. April 1983 nach einer Überdosis Heroin in seiner Badewanne. Menschlich ein großer Verlust für Hynde, was auch noch über zwei Jahrzehnte später in ihrer Rede zur Einführung in die Rock ‘n‘ Roll Hall Of Fame (Cleveland/Ohio) zum Ausdruck kam: „Ich weiß, dass die Pretenders die letzten 20 Jahre wie eine Tribute-Band aussahen, und wir zollen James Honeyman Scott und Pete Farndon unseren Respekt, ohne die wir jetzt nicht hier wären.“

Zurück ins Jahr 1982. Mit Billy Bremner (g) von Rockpile und Big-Country-Bassist Tony Butler wurde die neue Single ,Back On The Chain Gang‘ eingespielt. Doch das war nur ein kurzes Zwischenspiel der beiden, für sie kamen Gitarrist Robbie McIntosh (Manfred Manns Earth Band, Night) und Bassist Malcolm Foster. Und bereits die ersten Töne des neuen Albums machten deutlich, dass die Pretenders wieder am Start waren.

,Middle Of The Road‘ rockte geradeaus nach vorne, einfach nur großartig. Absolut klasse kam und kommt das Gitarren-Solo, das mit Bendings und Doublestops den Spirit der 50er atmete. Auch ,Time The Avenger‘ war so eine stramme Nummer, die auf einem hypnotischen Basslauf basierte, auf den die Gitarren regelrecht aufsprangen und der fast zwei Minuten durchlief, bevor ein Zwischenpart endlich die Monotonie durchbrach.

Befeuert von einem schnellen Drums-Train-Beat, countryesken Licks, Wechsel-Bass und verhalltem Gesang strahlte ,Thumbelina‘ ganz altes Rock & Roll Feeling aus. Und da war der stoische und treibende Groove des scharfen ,My City Was Gone‘, geradezu prototypisch für die 80er Jahre – könnte auch aus einem Song von Robert Palmer oder David Bowies ‚Let’s Dance‘-Album stammen. Auf der anderen Seite der Skala standen ruhigere Songs wie ,Show Me‘, das fast schon kitschige ,2000 Miles‘ und ,Thin Line Between Love and Hate‘, ein souliges The-Persuaders-Cover – Paul Carrack war hier am Piano und im Background mit dabei.

Meilenstein 08 The Pretenders
Chrissie Hynde, Malcolm Foster, Martin Chambers und Robbie McIntosh (Bild: Alyssa Cooper, Donna Santis, Robert Matheu)

Letztlich spannend wie auf ,Learning To Crawl‘ Punk-Energie und noch ältere Wurzeln mit moderneren Pop-Elementen vermischt wurden, stets zusammengehalten durch Miss Hyndes Stimme und ihr pures Akkordspiel. Sah man Chrissie zu Beginn der Pretenders mit verschiedenen Modellen, wie Gibson SG oder Fender Stratocaster, avancierte spätestens mit diesem Album die Fender Telecaster zu ihrem Hauptinstrument. Für ihre satten Clean- und Crunch-Sounds setzte sie Röhren-Combos von Fender oder Ampeg ein.

Über ihre Wurzeln als Musikerin sagte sie einmal: „Ich war auch ein großer James-Brown-Fan, weil ich Rhythmus-Gitarre liebte, die natürlich einen großen Anteil an seinem Sound hatte. Aber ich denke meine größten Einflüsse kamen von Musikern aus der Gegend wie Mitch Ryder And The Detroit Wheels, The Paul Butterfield Blues Band und, obwohl er nicht aus Akron oder Cleveland kam, Alice Cooper, der hier gewöhnlich auftrat. Er hatte eine großartig Band, eine der besten.“

Hyndes akzentuierte und gerade Rhythmusgitarre ließ viel Platz für Robbie McIntosh. Und der klinkte sich kongenial ein und veredelte die Nummern mit filigranen Pickings, Fills und Soli. Auch er setzte laut eines Interviews mit dem britischen The Guitar Magazine (September 2014) bei seiner Zeit mit den Pretenders auf eine 77er Fender Telecaster und ein Telestyle-Modell gebaut von Daniel Burns aus West Virginia. Daneben sieht man McIntosh in Live-Mitschnitten auch mit einer Fender Stratocaster oder einer Thinline in Richtung Gibson ES-335 und weiterhin mit Fender-Combo-Amps.

Im Inner-Sleeve der Vinyl-LP erkennt man auf seiner Bühnenseite Topteile mit 4x 12er Marshall-Boxen. McIntosh bewegt sich zwischen Clean und Crunch. Selbst in Soli verzichtet er auf mehr Verzerrung und setzt stattdessen auf seinen knackigen Saitenanschlag. An Effekten hört man allenfalls etwas Hall oder dezente Modulations-Sounds in Richtung Chorus. Im Vergleich zu seinem Vorgänger spielte Robbie sicherlich vielseitiger und spieltechnisch ausgereifter, was bei seinem Einstieg durchaus problematisch war, wie er im Rückblick (im oben erwähnten Interview) einräumte: „Chrissie sucht immer nach einer Atmosphäre mit Ecken und Kanten. Es gab eine Art Aufeinanderprallen mit meinem Stil, der etwas mehr von der leicht raffinierten harmonischen Sensibilität der britischen Popmusik hat, aber insgesamt funktionierte es wirklich gut.“ Kann man so stehen lassen.

Der Verlust von Honeymoon-Scott und Farndon hätte das Aus für die Pretenders bedeuten können.Umso beeindruckender, dass sie sich damals mit solch einem starken Album zurückgemeldet haben, dessen Kreativität auch heute noch unglaublich mitreißt.

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(erschienen in Gitarre & Bass 08/2018)

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