Meilenstein 1977

Never Mind The Bollocks: Here’s The Sex Pistols

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Sex-Pistols
Sid Vicious, Steve Jones, Johnny Rotten, Paul Cook (Bild: Warner)

Im England der Mid-70s gaben virtuoser Hardrock und verspielter Artrock den Ton an. Bands wie Black Sabbath, Led Zeppelin oder Deep Purple auf der einen, oder Yes und Emerson, Lake & Palmer auf der anderen Seite, standen für aufwendig produzierte Alben mit ausgefeilten Songs.

Zwar waren die nach wie vor mitregierenden Rolling Stones im Mai 1976 auf Rang 2 der Album-Charts (in den USA auf Platz 1), aber auf ,Black And Blue‘ klangen sie nur noch entfernt nach dem rebellischen Rock und Blues der Swinging Sixties. Stattdessen experimentierten sie hier unter anderem mit dem neuen Disco-Sound und Reggae. In diese Beschaulichkeit krachte am 26. November die erste Single einer unbekannten Band aus London, die sich provokativ Sex Pistols nannte. Nicht minder provokant der Titel: ,Anarchy In The U.K.‘. Steve Jones (g), Glen Matlock (b) und Paul Cook (dr) rockten hart und laut geradeaus. Eine Sensation war der Gesang von Johnny Rotten aka John Lydon, der mit rollendem „r“ dem Hörer klarmachte: „I am an Antichrist, I am an Anarchist“.

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Die Ursprünge der Sex Pistols reichen ins Jahr 1972 zurück, als Steve Jones, damals noch als Sänger, und Paul Cook mit Wally Nightingale (g) eine Band gründeten. Zwei Jahre später stieg Glen Matlock ein. Er arbeitete bislang in dem Kleider-Laden „Let It Rock“ (später umbenannt in „Sex“) von Malcolm McLaren, in dem Jones und Cook Stammgäste waren. McLaren wurde schließlich zum (später ungeliebten) Manager der Band und schlug den Namen „QT Jones & His Sex Pistols“ vor, der dann gekürzt wurde. Den fehlenden Sänger fand man schließlich auf der Londoner King‘s Road: John Lydon lief dort herum mit gezackten grünen Haaren und einem T-Shirt, auf das er „I Hate Pink Floyd“ geschrieben hatte. Die wichtigsten Einstellungskriterien waren also erfüllt, seine Mitmusiker tauften ihn wegen seiner schlechten Zähne um in Johnny Rotten.

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1977: Never Mind The Bollocks – Here‘s The Sex Pistols (Bild: Warner)

Die erste Show fand am 6. November 1975 am St. Martin‘s College Of Art, London statt. Mit ihrer Debüt-Single und ihrem Auftreten sorgten die Pistols für reichlich Aufmerksamkeit und Skandale. So trat die Band etwa zur späten Tea-Time in der TV-Show von Bill Grundy auf. Der Moderator reizte die Punks so lange, bis sie anfingen ihn zu beschimpfen. Dies alles führte dazu, dass das Platten-Label EMI die Pistols fallenließ. Und es dauerte nur zehn Tage, bis ihr neues Label A&M die Musiker vor die Tür setzte. Zudem verließ Bassist Matlock die Band. Für ihn kam Sid Vicious (eigentlich John Simon Ritchie), der mit seinem Look Frontmann Rotten Konkurrenz machte.

Jetzt bei Virgin Records unter Vertrag, stand im Mai 1977 die nächste Provokation an. Zum 25-jährigen Thron-Jubiläum der englischen Königin erschien die Single ,God Save The Queen‘. Die ersten Zeilen „God save the Queen, the fascist regime“ sind bis heute legendär. Zur Feier der Veröffentlichung schipperten die Pistols samt Presse-Tross über die Themse. Auf Höhe des Westminster Palace, dem Sitz des britischen Parlaments, spielten die Sex Pistols live ,Anarchy In The U.K.‘ und einige weitere Songs. Beim Anlegen erwarteten die Londoner Bobbys das Boot.

,God Save … ‘ erreichte Rang zwei der Charts. Es kamen noch drei weitere Singles heraus, von denen zwei in den TopTen landeten. Aber erst mit ihrem Album ,Never Mind The Bollocks – Here‘s The Sex Pistols‘, das schließlich am 28. Oktober 1977 veröffentlicht wurde, landeten die Punks auf Rang 1 der britischen Charts. Das Album startet gleich mit dem knackigen ,Holidays In The Sun‘ durch. Sehr cool kommt das getragene Intro von ,Bodies‘, bevor die Band wieder Vollgas gibt. Einfach unglaublich sind die atemlosen und hysterischen Ausbrüche des manischen Johnny Rotten, immer gewürzt mit dem bösen, bösen Wort „Fuck“. Aus heutiger Sicht klingt er fast schon wie eine vollkommen überzogene Karikatur seiner selbst. Ziemlich dreckig drückt in ,No Feelings‘ der mit Mitten angereicherte Zerr-Sound der Gitarre aus den Boxen. Der Song ist genauso ein Rock‘n‘Roller wie das folgende ,Liar‘.

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Anarchy in the U.K.: Zerstörter Union-Jack, zerrissene Fotos, Wortfetzen (Bild: EMI)

Die schnelle Rhythmusarbeit der Gitarre war/ist definitiv markant für die Sex Pistols. Besonders auffällig ist, dass Jones quasi in jedem Stück irgendwo das Hineinrutschen eines Akkords von einem Halbton darunter unterbringt. Die Rock-Welt kennt so etwas seit Elvis Presleys ,Jailhouse Rock‘. Und auch die Soli von Steve Jones mit ihren Double-Stops und rauen Bends transportieren ebenfalls viel altes 50er-Jahre-Rock-&- Roll-Feeling. Daneben zeigt er auch mal andere Ansätze, wie mit dem Picking-Intro im großartigen ,Submission‘.

Jones‘ Hauptinstrument war eine weiße Gibson Les Paul Custom, die er mit einem Fender Twin Reverb verstärkte. Als einziger Effekt kam in ,Anarchy in the U.K‘ ein MXR Flanger zum Einsatz. Ansonsten bleibt der Sound direkt und verzerrt. Damit bewegte er sich auch in der Tradition von Musikern wie Bowie-Gitarrist Mick Ronson und Ron Wood von den Stones, die Jones‘ gegenüber dem Magazin Guitar Player einmal als Vorbilder erwähnte.

Übrigens: den Rock-‘n‘-Roll-Spirit verbreitete Jones auch auf dem Bass, den er laut www.sexpistolsofficial.com ebenfalls eingespielt hat. Sid Vicious, heute die Punk-Ikone schlechthin, hatte damals ein Problem: Er wurde zwar als Bassist angeheuert, konnte das Instrument zunächst aber gar nicht spielen. Das bestätigt auch Zeitzeuge Lemmy Kilmister (Motörhead) in seiner Autobiographie White Line Fever: „Tatsächlich gab ich Sid Vicious ein bisschen Bassunterricht – er kam auf mich zu und sagte: ,Hey Lemmy, bring mir bei wie man Bass spielt‘. Und ich antwortete: ,Okay, Sid‘. Aber nach drei Tagen musste ich ihm sagen: ,Sid, du kannst nicht Bass spielen‘. Steve Jones brachte ihm nur das wesentliche Bumm-Bumm-Bumm-Bumm bei. Das war wirklich alles was er spielen musste.“

In Live-Mitschnitten der Zeit sieht man Sid mit einem weißen Fender Precision Bass. Zu seinem Live-Equipment gehörte ein Ampeg-SVT-Verstärker mit einer 4x12er Box. Der zweite Bassist des Albums ist dann bei ,Anarchy In The U.K.‘ der rausgeworfene Glen Matlock, der sowohl einen Fender Precision als auch einen Rickenbacker 4001 spielte, und diese live über einen Fender Bassman mit einem 4×12-Fender-Cabinet verstärkte. Neben dem frühen 50’s-Rock-&-Roll waren wohl Bands wie The Who oder US-Protopunker wie The Stooges sowie MC5 Vorbilder für die Sex Pistols. Nun, Johnny Rotten hätte das damals sicher abgestritten, aber es ist definitiv nicht zu überhören.

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Das deutsche Single-Cover (Bild: EMI)

Und an dieser Stelle muss man Drummer Paul Cook erwähnen, der vollkommen schnörkellos und mit genau gesetzten Breaks die Songs nach vorne brachte. Besonders der Einfluss auf die heimische Szene war immens. Beim ersten Pistols-Konzert in Manchester, am 4. Juni 1976, waren gerade mal 40 Personen anwesend. Darunter, laut der Autobiographie von Bernard Sumner, eine ganze Reihe später bekannter Musiker, wie Mark E. Smith von The Fall, Morrissey (The Smiths) und die späteren Joy-Division-Mitglieder Peter Hook und eben Sumner selbst. Dabei war es wohl weniger die Musik, als die Haltung der Sex Pistols, die nachhaltig beeindruckte, eben die Freiheit im Ausdruck und das zu tun, was man machen möchte.

Sumner beschreibt in seiner Autobiographie die Aufbruchsstimmung der Zeit: „Nach einer Kindheit, in der Musik nur eine minimale Rolle gespielt hatte, erhielt ich nun während meiner Flegeljahre einen hochintensiven Crash-Kurs. Es war, als ob ich mich rasch durch die verschiedenen Gänge eines musikalischen Getriebes nach oben arbeitete – und mit Punk schaltete ich dabei in den fünften. Eine der Nachwirkungen des Pistols-Gigs war, dass ich nun die E-Gitarre, die mir meine Mum Jahre zuvor gekauft hatte, in einem völlig neuen Licht betrachtete. So verschloss ich eines Abends die Türe meines Schlafzimmers, setzte mich aufs Bett, blies den Staub fort, öffnete das Gitarrenbuch, das ich gekauft hatte, und fing an das Instrument zu erlernen.“

Die Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Bands, von Joy Division über Guns N‘ Roses bis hin zu Nirvana, sind bis heute spürbar. ,Never Mind the Bollocks …‘ sollte das einzige Studioalbum der Sex Pistols bleiben. Aber mit ihm hatten Rotten & Co dem Rock ‘n‘ Roll einen Tritt in den Allerwertesten verpasst. Und der kommt auch zum 40-Jährigen immer noch kräftig rüber. [2038]

(erschienen in Gitarre & Bass 10/2017)

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