Kolumne

Parts Lounge: E-Gitarren und Ästhetik – Teil 1

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Wie „klingt“ die Gitarre an der Wand? (Bild: Udo Pipper)

Physik und Metaphysik, Determinismus und Formalismus, Kunstfertigkeit und Kulturalismus: das sind einige der Themen, um die es mich vor allem seit den letzten zwei Jahren umtreibt. Dazu muss ich vielleicht etwas länger ausholen, denn ich beschäftige mich im Grunde schon seit gut vierzig Jahren damit.

1978 nahm ich mein Studium der Publizistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Göttingen auf. Musik und Kunst sind eng miteinander verflochten und Publizistik reizte mich, weil ich eine Leseratte war und bin und alles zu diesen Themen seit jeher verschlinge. Auch hegte ich schon damals den Wunsch, über solche Themen irgendwann zu schreiben. Natürlich ist ein Studium an bestimmten Fakultäten immer vom jeweiligen Zeitgeist und der Ausrichtung des Instituts geprägt.

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FORM & KLANG

Meine Schwerpunkte in den Musikwissenschaften waren vor allem Instrumentenkunde und musikalische Semantik. Zu dringlich waren für mich die Fragen, wobei es bei den so genannten Tonkünsten überhaupt geht. Kunstzeichensetzung (also was ist Kunst und was nicht) war ein Lehrschwerpunkt, wobei das natürlich vor allem von klassischen Werken geprägt war. Die Ansätze waren dabei qualitativ sehr elitär. Jazz, Rock und Blues kamen nicht vor. Solche „Unmusik“ oder solcher „Lärm“ kamen gar nicht erst auf den Tisch. Schließlich führt eine Powerchord-Verschiebung auf einer E-Gitarre zu Quintparallelen, und die waren wie vieles andere streng verboten. Die Form war alles, und die war durch die klassische Harmonielehre vorgegeben.

Dann ging es um Gehör- und Klangbildung. Zum Gitarrenunterricht mit einer asiatischen 400-Mark-Gitarre auftauchen? Undenkbar! Der „gute Klang“ war gefordert. Bis heute weiß ich nicht, wo der anfängt und aufhört (Zeichensetzung), aber als ich mal eine Bratschistin in der Mensa kennengelernt hatte und sie mir erzählte, dass ihre Bratsche für 75.000 Mark noch recht günstig gewesen sei und ihre Eltern dafür gern einen Kredit aufgenommen hätten, dämmerte mir, dass da einiges von einem erwartet wurde. Kurzum: In der Musik geht es vor allem um zwei Dinge: Die Form und den Klang. Auch diese beiden Phänomene sind untrennbar miteinander verbunden. Während man die Form in Teilen auf ein Notenblatt aufzeichnen kann (quasi als Syntax), bleibt die Welt der Klänge aber im Metaphysischen (Semantik) verborgen. Ein Dirigent muss seinen Musikern „erklären“, wie sie spielen sollen. Dazu benötigt er Begriffe aus der Sprache (oder manchmal auch Zeichensprache oder bestimmte Gesichtsausdrücke). Die Klänge waren heilig.

HÖREN ≠ MESSEN

Damals war ich aufgrund meiner Vorbildung in diesen Bereichen oft schrecklich überfordert. Aber bald begriff ich, dass es auch in „meiner Musik“ eigentlich immer nur um die Bedeutung geht, und das umfasst alle unsere Sinne.

In einem Seminar ging es genau darum, und das öffnete für mich ganz neue Räume der Klangdeutungen. Es gab Studien wie etwa ein Sinfonie-Orchester klingt (aus Sicht der Zuschauer), wenn vorher Rosenduft im Raum versprüht wurde oder etwa der Geruch fauler Eier. Wenn die Musiker Smoking trugen oder Ami-Parker und verwaschene Jeans, die Raumtemperatur viel zu kalt oder gerade angenehm war. Dazu gab es tatsächlich empirische Untersuchungen. Klang war immer ein Gesamtereignis und nie eine diskrete physikalische Größe. Klänge lassen sich nicht messen.

Sie existieren quasi hinter der Form, aber sie sind der Grundstoff für unsere musikalischen Empfindungen. Und die sind die Deutungsplattform überhaupt.

Daher sind die Forderungen, man müsse die Klangwelten auf physikalisch messbare Parameter begrenzen, völlig absurd. Sie existieren ja an sich, auch ohne Musiker und Instrumentarium (etwa ein Meeresrauschen). Sie entfalten sich jedoch beim dem, was wir Musik nennen, erst in der Form und Empfindung (Deutung) des Musikers und Zuhörers. Unsere Ohren sind keine Messgeräte. Wir hören unter Umständen jede Minute anders. Und unser Gehirn, allem voran unser limbisches System, deutet das Gehörte eben „je nachdem“. Alles Hören ist demnach Psychoakustik. Alles wird eingeordnet nach unserem psychosomatischen Grundgerüst, unseren Vorprägungen, Vorlieben und unserem Bewusstsein.

Die Welt der Klänge entfacht sich vor allem durch die Fähigkeiten und den Bewusstseinszustand des Musikers, erst in zweiter Linie durch das Instrument selbst, das ja eigentlich nur als Werkzeug zur Erzeugung von Schwingungen dient. Ich erinnere mich als ich bei Jeff Beck war und eine uralte Gretsch Duo-Jet bewunderte, die bei ihm an der Wand hing. Als ich neugierig fragte wie sie klingt, schmunzelte er, ging mit seinem rechten Ohr ganz nah an die Gitarre und sagte: „Mmmmhhh, keine Ahnung. Ich höre nichts!“. Erst da wurde mir klar, wie dumm meine Frage war.

Für eine musikalische Form und deren Interpretation, ist es erstmal unwichtig, ob man ein vermeintliches Top-Instrument oder einen billigen „Schrammelkasten“ verwendet. Das Können eines Musikers sollte davon nicht abhängen. Und tut es auch nicht. Die meisten Zuhörer sind offen genug, um einen guten Vortrag einer bestimmten Form zuzuordnen und auch richtig zu deuten. Wenn die Musik nur eine bestimmte Funktion erfüllen soll, wie bei einer Party oder beim gemeinsamen Grölen im Fußballstadion, ist der Klang meist zweitrangig, wenn nicht sogar unbedeutend. Geht es jedoch um die semantischen Räume der Empfindungen, dann schwimmt man unwillkürlich in den Tiefen der Klänge, die diese vielleicht erst hervorbringen. Schon im Mutterleib prägt uns im Fruchtwasser der Klang der mütterlichen Stimme, später vielleicht die Spieluhr am Bett oder ein Einschlaflied. Die meisten Mütter und Väter singen ihre Schlaflieder leise und beruhigend, beides Begriffe aus der Semantik. Ein Bösewicht in einem Spielfilm erhebt vielleicht die Stimme, um bedrohlich zu werden. Noch bedrohlicher wirkt er, wenn er nur noch ganz leise spricht, etwa wie Christoph Waltz in ‚Inglourious Basterds‘ in seiner Rolle als SS-Offizier.

ALLES IST SUBJEKTIV

Manche Menschen empfinden Schmerzen, wenn jemand mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzt, andere erschaudern bei quietschendem Styropor. Das sind vielleicht sogar archaische Anlagen in uns. Bestimmte Klänge erzeugen auch Ekel und Abneigung ganz aus sich heraus. All das kann ein Musiker, der sich nicht mehr der Wiener Schule verpflichtet fühlt, in seine musikalische Inszenierung einbauen. Jimi Hendrix war ein Meister darin. Und wie es scheint, genügte ihm dafür irgendeine Stratocaster und irgendein lauter Amp. Er ging kaum in Musikgeschäfte, um ein Instrument auszusuchen. Vielmehr bestellte sein Management einfach ein paar Gitarren direkt beim Hersteller, aus denen er dann sein Lieblingsinstrument aussuchte.

Bazon Brock „Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit“

 

Als wir vor etwa zwei Jahren in der Toskana den „Chitarre e Vino“-Workshop durchführten, hatte ich ein Buch vom Kunsttheoretiker und Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung Bazon Brock (Wuppertal) dabei, das ich trotz schwerster Kost in dieser Woche vollständig durchlas. Es trägt den Titel ‚Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit‘ (1986 DuMont Buchverlag) und behandelte all diese Themen auch in interdisziplinärer Form – man könnte auch sagen von einem philosophischen Standpunkt aus. Für mich war das ein unfassbar wichtiges Werk, denn auch hier ging es auch um die Deutungsebenen von Kunst für uns Menschen. Es ging um das Lebendige darin, das Kontrafaktische in flüchtigen Dingen, die nur in der Zeit und in unserem Denken existieren. Tagsüber in den Workshops versuchte ich die nachts beim Lesen erlangten Erkenntnisse den Teilnehmern wenigstens ein klein wenig näher zu bringen, in dem ich ein paar Gedanken daraus in meinen Vortrag einbaute. Beim Mittagessen sagte mir ein Teilnehmer, der mir zufällig gegenübersaß: „Fand ich spannend, was Du da gesagt hast – bis auf den ‚esoterischen Teil‘ vielleicht“. Er meinte damit genau die Aspekte, über die ich hier schreibe. Ich musste schmunzeln. Es ist und bleibt eben für viele Interessenten eine geheimnisvolle und damit wahrscheinlich verschlossene Welt.

Nachmittags sagte dann mein Mitreferent Carl Carlton: „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Rock’n’Roller, wobei ich mich mehr für das ‚Rrrrrroll‘ interessiere.“ Da wusste ich, dass ich mir keinen besseren Partner für diese Workshops hätte wünschen können.

In diesem Sinne … ●


(erschienen in Gitarre & Bass 04/2025)

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