Fusion-Gitarre aus einem Parallel-Universum

In Memoriam Allan Holdsworth

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Eigentlich wollte Allan Holdsworth Saxophon spielen, als er im Alter von 17 Jahren entschied, sich mehr der Musik zuzuwenden.

(Bild: Uwe Neumann, Carvin, CTI)

Zuvor war der Sohn des Jazz-Pianisten Sam Holdsworth, geboren am 6. August 1948 in Bradford, nur als Zuhörer an Musik interessiert gewesen. Schon im Alter von drei Jahren allerdings hatte ihn der Plattenspieler seiner Eltern in den Bann gezogen. Mit 15 ging Allan von der Schule ab und widmete sich, neben Gelegenheitsjobs, intensiv seiner zunächst größten Passion, dem Rennrad. Aber um die gleiche Zeit nahmen ihn sein Vater und sein Schwager mit zu Gigs: „Nie werde ich vergessen, wie ich nahe der Bühne voller Spannung darauf wartete, dass die Musiker kommen und es uns richtig besorgen, und überall leuchteten die roten Lichter der Amps.“ Allans Familie hatte nicht das Geld, ihm ein Saxophon zu kaufen, aber statt dessen schenkte Sam seinem Sohn eine Akustik-Gitarre, die er von Allans Onkel billig gekauft hatte.

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(Bild: Uwe Neumann, Carvin, CTI)

Allans Faszination für die sechs Saiten war geweckt, und schnell kaufte er eine E-Gitarre und begann zu üben. Wie Wes Montgomery ein knappes Vierteljahrhundert vorher, lernte auch Allan zunächst nach Gehör, die Soli des Jazz-Gitarren-Pioniers Charlie Christian nachzuspielen, weil ihm dessen Ton so gut gefiel. Und da er John Coltrane verehrte und lernen wollte, zu improvisieren, fing er an, sich intensiv mit Skalen zu beschäftigen. Angebote seines Vaters, ihm dabei zu helfen, schlug er aber aus. Stattdessen erstellte er große Griffbrett- Diagramme, in denen er seine bevorzugten Skalen Ton für Ton über das gesamte Register des Instruments eintrug und sich grafisch einprägte.

Dabei entwickelte er Fingersätze mit vier Tönen pro Saite, eine F-Dur-Tonleiter, gespielt in Holdsworth- Manier, sieht so aus: Außerdem entdeckte er, dass er mit Legato- Techniken wie Hammer On, Pull Off und Slide seine Linien in Saxophon-Manier zum Fließen bringen konnte – ein Konzept, das zwar auch auf einer Akustik- Gitarre funktioniert, aber vor allem auf der E-Gitarre mit Sustain-Unterstützung durch einen übersteuernden Röhrenverstärker sein volles Potential entfaltet.

Allan hatte so der Gitarre deren von ihm ungeliebten perkussiven Charakter gänzlich ausgetrieben, sein ganz und gar eigener Sound auf dem Instrument war geboren. Innerhalb von wenigen Jahren machte Allan Holdsworth gewaltige Fortschritte. Nach seinem Umzug nach London wurde er Mitglied bei Tempest, der Band des Drummers Jon Hiseman. Auf dem 1973 erschienenen selbstbetitelten Album kann man schon Allans typische solistische Kaskaden hören – wann er auch noch die Zeit gefunden hat, Violine zu lernen, wird sein Geheimnis bleiben. Mit Tempest absolvierte er seine erste US-Tour, verließ aber die Band, weil er mit den weiteren musikalischen Plänen Jon Hisemans nicht einverstanden war. Über den Pianisten Pat Smythe lernte er den Drummer John Marshall kennen, wurde Mitglied der Progressive- Jazz-Rock-Band Soft Machine und spielte 1975 das Album ‚Bundles‘ ein. Einen ersten Höhepunkt seines musikalischen Lebens markierte seine Zeit als Gitarrist in Tony Williams Band Lifetime.

Der vielleicht wichtigste Drummer der Jazz-Geschichte, dessen Stern als 17-jähriger Newcomer in Miles Davis‘ Band aufgegangen war, gab Allan enorm viel Freiheit in seiner Band, und zu dem Album ‚Believe It‘ (1975) steuerte Allan mit ‚Fred‘ und ‚Mr. Spock‘ zwei Kompositionen bei. 2007 erschien als Hommage an die Zeit mit Tony Williams die DVD ‚Live at Yoshi’s‘, eingespielt mit seinem damaligen Mitmusiker, dem Pianisten Alan Pasqua, dem Bassisten Jimmy Haslip und dem Drummer Chad Wackerman. Als Sideman spielte Allan bei einigen wegweisenden Bands der Progressiveund Jazz-Rock-Szene mit, mit Gong, Jean- Luc Ponty, Bill Bruford und U.K. entstanden einige bemerkenswerte Alben.

Im Mittelpunkt seines Lebenswerks stehen aber seine zahlreichen Soloplatten. Sein Debüt-Album ‚Velvet Darkness‘ erschien bei dem US-Jazz-Label CTI 1977 und wurde aus Allans Sicht zu einem kompletten Desaster. Der Deal mit Creed Taylor kam auf Vermittlung von George Benson und Joe Farrell zustande, die Allan live gesehen hatten und von seiner Performance total begeistert waren. Die Produktion war unterfinanziert, das Zeit-Budget viel zu knapp, und das Resultat aus Allans Sicht so unbefriedigend, dass er sich von diesem Werk distanzierte. 1979 nahm er mit dem Schlagzeuger Gary Husband sein erstes echtes Solo-Album auf. ‚i.o.u.‘ erschien 1982, die drei Buchstaben des Album-Titels stehen für „I owe you“ und zeigen mit schwarzem britischen Humor ein Problem auf, mit dem Allan sein ganzes Leben lang zu kämpfen hatte: Seine Musik konnte ihn kaum finanziell über Wasser halten. ‚i.o.u.‘ zeigte zum ersten Mal Holdsworths eigene Musik in voller Spannweite.

Beispiel 1 bietet einen kleinen Einblick in den wunderbar magischen Kosmos von Allans Akkord-Voicings. ‚Where Is One‘ ist eine typische Holdsworth-Komposition, metrisch raffiniert und betörend schön. Vorsicht beim Nachspielen – manche Voicings erfordern massive Überstreckungen der linken Hand!

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Von einem der besten Holdsworth-Alben stammen die beiden folgenden Beispiele. ‚Metal Fatigue‘ (1985) beginnt mit einem spektakulären Intro, das damals die Gitarristen- Welt schockierte. Allan benutzte einen Harmonizer, der das Signal – um einen Ganzton nach unten verschoben – doppelt. So mutierte ein eigentlich harmloses Rock-Riff zu einem bitonalen Monster (Beispiel 2). Eines seiner schönsten Soli spielte Allan auf ‚The-Un-Merry-Go- Round‘, einer mehrteiligen Komposition, die er seinem verstorbenen Vater Sam widmete. Die 18 Takte in Beispiel 3 zeigen, dass Allan auch mit wenigen Tönen unglaublich intensive Musik machen konnte. Allan Holdsworth ist am 15. April 2017 in Vista, Kalifornien gestorben. Einer der größten Musiker des 20. und 21. Jahrhunderts verließ diesen Planeten „penniless“, für die Kosten seiner Beerdigung waren seine Hinterbliebenen auf Spenden angewiesen. „There’s somethin’ wrong with the world today“ singt Steven Tyler in ‚Livin‘ On The Edge‘. Wie recht er hat!

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Aus Gitarre & Bass 06/2017

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