Im Interview

Paul Gilbert: Tausendsassa

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(Bild: Jason Quigley)

Paul Gilbert kann einfach nicht stillsitzen! Sogar während eines laufenden Interviews hat der amerikanische Ausnahmemusiker, zu dessen Vita unter anderem große Erfolge mit den Bands Racer X und Mr. Big zählen, seine Gitarre ständig in der Hand. Auf ihr klimpert er unablässig herum und liefert sofort die passenden Sound- und Spielbeispiele, wenn er über einen Song, ein Lick oder eine Phrase spricht. So erhält man prompt eine vage Idee, wie bei Gilbert das Songwriting funktioniert.

Der 54-Jährige ist das reinste Kreativbündel, das Ideenfragmente im Sekundentakt hervorzaubert und seine grandiose Technik dazu nutzt, um auch simpelste Hooks mit virtuosen Einlagen zu verzieren, die Normalsterbliche nicht einmal dann spielen könnten, wenn man sie ihnen Schritt für Schritt erklären würde. Gilbert dagegen schüttelt massenhaft Noten und wieselflink gespielte Skalen mühelos aus dem Ärmel und könnte diese auch musiktheoretisch bis ins kleinste Detail erläutern.

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Sein neues Instrumental-Album heißt ‚Werewolves Of Portland‘ und wurde vom US-Tausendsassa komplett alleine eingespielt. Sprich: Neben Gitarren und Bass hat Gilbert auch alle Keyboards und das gesamte Schlagzeug (!) übernommen. Viele spannende Ansatzpunkte also, um sich von ihm die Entstehung der neuen Scheibe haarklein erklären zu lassen.

Paul, kannst du bitte mal beschreiben, wie du ‚Werewolves Of Portland‘ aufgenommen hast? Was waren die ersten Produktionsschritte, und was die besonderen Herausforderungen?

Mein Songwriting ist im Ansatz generell sehr simpel, insofern muss ich im Studio nicht mehr allzu lange über das Arrangement nachdenken: Es gibt ein Riff, ein paar Akkorde, eine Melodie, einen Solopart und ein folgerichtiges Song-Ende. Der erste Schritt: Wir fangen mit dem Computer und der Pro-Tools-Software an, das Tempo festzulegen und den Clicktrack zu programmieren. Da es auf ‚Werewolves Of Portland‘ innerhalb der Stücke eine Menge Tempowechsel gibt, mussten wir den Clicktrack sehr sorgfältig programmieren und auf möglichst sanfte Übergänge achten, was jeweils etwa drei bis vier Stunden in Anspruch nahm.

In dieser Zeit spiele ich normalerweise ein wenig mit meiner Gitarre herum, bekomme dadurch schon mal ein besseres Gefühl zum jeweiligen Song und groove mich aufs richtige Tempo ein. Wenn der Clicktrack programmiert ist, spiele ich eine erste Pilotgitarre mit einer Art Demo-Melodie ein. Danach höre ich mir das Resultat genau an und entscheide dann, ob der Aufbau des Songs funktioniert oder ob man doch noch mal am Arrangement feilen bzw. etwas ändern sollte. Wenn dies der Fall ist, macht sich mein Toningenieur Kevin Hahn an die Arbeit und programmiert den Clicktrack neu.

Anschließend spiele ich die endgültige Pilotgitarre ein und kümmere mich danach zuerst ums Schlagzeug, das ich nach Clicktrack einspiele. Auf ‚Werewolves Of Portland‘ wurden in den meisten Fällen etwa zehn Drum-Takes pro Song aufgenommen. Der erste Take war meistens noch etwas wackelig, da ich mich erst an den Groove gewöhnen musste. Doch mit jedem weiteren Take wurde es zunehmend besser. Und am Ende gelang es mir meistens, einen absolut passablen Drum-Take abzuliefern. Wenn der im Kasten war, wurden die Drums final editiert, was noch einmal ein paar Stunden dauerte. Danach kam die finale Rhythmusgitarre an die Reihe, anschließend die Melodiegitarre und das Solo, dann die Keyboards und erst ganz am Ende der Bass.

Hast du deine Gitarren über einen traditionellen Amp aufgenommen, oder über Plug-Ins?

Ausschließlich über einen richtigen Röhrenverstärker. Ich wollte unbedingt so nahe wie möglich vor dem Amp sitzen, deshalb hatten wir im Kontrollraum einen Marshall-JTM-1-Combo aufgebaut, mit dem Speaker direkt auf mich gerichtet. Der Marshall war erstaunlich laut, aber das musste er auch sein, denn ich wollte den Sound nicht nur hören, sondern auch physisch spüren. Ich saß also mit meinem Engineer Kevin im Kontrollraum, hatte Kopfhörer auf den Ohren und spielte über den cleanen Kanal des Marshalls. Davor geschaltet waren ein JHS-Distortion-Pedal PG-14, ein MojoMojo von TC Electronic und ein Boss SD-1 Super Drive.

Die meisten Gitarrenparts wurden mit meiner Ibanez-Fireman-Signature eingespielt, allerdings kam auch eine alte Epiphone Olympic aus dem Jahr 1965 mit DiMarzio-PG-13-Tonabnehmer zum Einsatz. Ach ja: Bei den Effekten habe ich noch ein Leslie-Pedal vergessen, und bei den Gitarren eine Ibanez Roadstar von 1983, mit einem tollen Vibrato-System und einem neuen Pickup, den ich selbst eingebaut habe. Man kann übrigens die Roadstar in der Nummer ‚A Thunderous Ovation Shook The Columns‘ hören, der Song klingt ein wenig wie die frühen Van Halen.

Gab es ein bestimmtes Muster, nach dem du den einzelnen Tracks deine Gitarren zugeordnet hast?

Nein, es gab keine feste Regel. Jeder Song klingt völlig anders und sagt einem von ganz alleine, mit welchen Gitarren man ihn spielen sollte. Der Opener ‚Hello North Dakota‘ hat zum Beispiel ein Riff, das mich total an Pete Townsend und The Who erinnert. Damit stand fest, dass ich nur sehr wenig Distortion benötige. Bei den Soli dagegen brauchte ich fast immer deutlich mehr Verzerrung, um ein besseres Sustain zu bekommen.

Hast du die Rhythmusgitarren ganz traditionell gedoppelt?

Nein, habe ich nicht, obwohl mir mein Instinkt exakt dies gesagt hätte. Aber mein Engineer hatte es strikt verboten. (lacht) Kevin sagte: „Jede deiner Gitarren soll einen eigenen Sound bekommen, und damit man diesen am Ende im Mix auch heraushören kann, dürfen sie nicht gedoppelt werden.“ Er sagte: „Ich möchte, dass jede Gitarrenspur mit den jeweils anderen kämpft! Deshalb sollten wir soweit wie möglich auf allzu viele Overdubs verzichten.“

Wie viele Rhythmusgitarren pro Song hast du dann letztlich eingespielt?

Das hing vom Song und von der jeweiligen Riff- und Akkordbewegung ab. Manchmal basiert das Riff auf einer Singlenote-Bewegung, in dem Fall braucht man nicht allzu viele Rhythmusgitarren, geschweige denn ein Piano zur Untermalung. Bei ‚Argument About Pie‘ war es umgekehrt, da war es sehr gut, ein begleitendes Piano aufzunehmen.

Waren die Drums für dich die größte Herausforderung auf ‚Werewolves Of Portland‘?

Ja und nein. Einerseits habe ich früher lange Jahre sehr intensiv getrommelt und mich auf dem neuen Album an meine Vorbilder erinnert, also an Jerry Shirley von Humble Pie, an Ian Paice oder Vinny Appice von Dio. Der Vorteil beim Schlagzeug ist: Man kann keine falschen Noten spielen. Ich habe also einfach genauso getrommelt, wie es mir mein Gefühl und mein Geschmack vorgegeben haben. Normalerweise will jeder Drummer zeigen, was er so alles drauf hat. Ich wollte das nicht! Meine Fills und Breaks klingen wie aus dem Jahr 1972 oder so, alles ein wenig wie in ‚Stairway To Heaven‘, um mal ein konkretes Beispiel zu geben. Manches klingt wie der frühe Neil Peart, auch weil ich viele Breaks und Fills mit nur zwei Tomtoms getrommelt habe.

(Bild: Jason Quigley)

Konntest du aus deinem 2014er-Cover-Album ‚Stone Pushing Uphill Man‘ eigentlich etwas für deine Arbeit an eigenen Songs lernen?

Ja, vor allem als Gitarrist. Es ist etwas völlig anderes, ob mal als Gitarrist die üblichen Skalen spielt oder aber versucht, eine Gesangsmelodie auf sein Instrument zu übertragen. Das war anfangs nicht ganz einfach und hat viel Zeit und Mühe gekostet, bis ich wirklich zufrieden war. Aber dadurch habe ich Routine bekommen, von der ich jetzt auf ‚Werewolves Of Portland‘ profitiert habe. Es hat einen Heidenspaß gemacht, meine Gesangsideen auf die Gitarre zu übertragen. Ich hatte immer meine Helden vor Augen, oder besser: vor Ohren, also die Beatles, Dio, Judas Priest oder auch die Scorpions. Um zum Beispiel den Gesang von Klaus Meine auf die Gitarre zu übertragen, ist ein Slide einfach großartig. Deshalb habe ich ja auch immer einen Bottleneck per Magnet direkt am Gitarrenkorpus befestigt.

Und konntest du von ‚Stone Pushing Uphill Man‘ auch kompositorisch etwas mitnehmen?

Nun, wie gesagt: Als Gitarrist denkt man vor allem in Skalen, etwas, das für einen Sänger überhaupt nicht in Frage kommt. Sänger denken und singen völlig anders als Gitarristen normalerweise spielen. Und umso mehr Gesangslinien man auf die Gitarre überträgt, umso stärker entfernt man sich von den typischen Gitarrenlicks. Allerdings stellt man irgendwann fest, dass auch Sänger immer wieder vergleichbare oder zumindest ähnliche Licks wählen. Nimm nur einmal die Melodie von ‚Some Kind Of Wonderful‘, man findet sie in leicht abgewandelter Form in zig anderen Songs wieder. Dennoch: Sänger denken anders als Gitarristen, sie sind eher auf Melodien fokussiert. Und wenn man sich das zu eigen macht, kann man als Gitarrist eine Menge über gutes Songwriting lernen.

Gibt es den ultimativen Gesangssong, von dem du am meisten hast lernen können?

Hm, lass mich kurz überlegen … Ich denke, es war die K.D.-Lang-Nummer ‚Wash Me Clean‘, eine betont langsame Ballade. Ich hatte die Melodie wie gewohnt mit einem Fingervibrato gespielt und dann beim Mischen festgestellt, dass ein Ton in der Hauptmelodie immer ein wenig zu hoch geraten war. Wir korrigierten daraufhin den Ton via Pro Tools und besserten anschließend auch alle anderen Stellen aus, in denen das Vibrato den Ton zu hoch werden ließ. Dabei konnte ich feststellen, dass es einfacher ist, das Vibrato mit einem Whammy-Bar zu erzeugen, denn damit kann man einen Ton mal höher, mal tiefer vibrieren lassen. Mit einem Slide geht das übrigens auch ganz hervorragend, weshalb ich besonders gerne Slide spiele, wenn es um die Hauptmelodie geht.

Zurück zum neuen Album: Wie ging es weiter, wie wurde gemischt? Kannst du mit deinem eingeschränkten Hörvermögen beim Mix überhaupt helfen?

Nur bis zu einem gewissen Punkt. Deshalb wäre es auch keine sonderlich gute Idee, mich ein Album alleine mischen zu lassen. In den oberen Frequenzen bin ich fast komplett taub, alles oberhalb von 1 Kilohertz kann ich nicht hören. Aber ich habe eine konkrete Vorstellung davon, in welcher Balance ein Song gemischt werden sollte und kann insofern meinen Beitrag beim Mix leisten. Tiefe und mittlere Frequenzen kann ich ja gut hören, nur mit den Höhen ist das so eine Sache. In diesem Frequenzbereich ist das meiste für mich ein großes Rätsel. Es ist ein wenig wie mit Hunden, die sehr viel besser riechen können als Menschen. In meinem Fall können fast alle Menschen besser hören als ich. (lacht)

Was wird das laufende Jahr an weiteren Herausforderungen für dich bringen? Was ist in deiner 2021er-Pipeline?

Meine Online-Schule www.artistworks.com läuft weiterhin super, alleine dafür produziere ich an die 50 Videos pro Woche. Ehrlich gesagt hat die Schule während der Pandemie mein Leben gerettet, denn durch sie hatte ich ständigen Kontakt zu anderen Menschen. Derzeit betreue ich nahezu 2000 Schüler, die mich natürlich ganz schön auf Trab halten. Aber ich liebe diesen Job, ich liebe es zu sehen, wenn Musiker sich kontinuierlich verbessern und ich meinen Teil dazu beitragen kann.

Hast du ein spezielles Konzept, um so viele Studenten unter einen Hut zu bringen?

Ja, und zwar ein bewusst unkompliziertes: Meine erste Lektion lautet grundsätzlich „Einfach nur spielen“. Ich bereite ein simples Riff vor, das die Studenten lernen müssen. Zum Beispiel ist das Anfangsriff zu ‚Hello North Dakota‘ nichts Anderes als ein Part, den ich ursprünglich für meine Studenten entworfen habe. Nachdem ich es entwickelt hatte, dachte ich: Wow, cool, vielleicht sollte ich daraus einen neuen Song machen. Und genau das habe ich getan. Auch der Mittelteil der Nummer war ursprünglich eine Lektion für meine Schüler. Du siehst: Ich kann alles gebrauchen, hahaha.

Wirst du außerhalb der Online-Schule demnächst auch wieder öffentlich zu sehen sein?

Das hoffe ich doch! Ich plane ein Guitar Camp in Long Island. Ob es stattfindet? Wer weiß? Aber solange es eine Chance gibt, halte ich an der Idee fest. Ansonsten bereite ich mich zurzeit auf weitere Promotion-Videos für ‚Werewolves Of Portland‘ vor. Das ist extrem viel Arbeit, denn man muss bedenken: Dadurch, dass ich mich so stark aufs Schlagzeugspielen konzentriert habe, sind mir viele meiner Gitarrenparts mittlerweile wieder entfallen, sodass ich einige von ihnen neu lernen muss. Irgendetwas ist halt immer zu machen …

Vielen Dank für das nette Gespräch, Paul, und alles Gute für dich und dein neues Album!


equipment

Untrennbar: Paul Gilbert und die Ibanez Fireman
Auf Mini-Humbucker umgebaute Epiphone Olympic
Ibanez PM120
Ibanez Artist 2622
Ibanez RS315 aus der Roadstar II Serie mit zusätzlichem Hals-Pickup
Ibanez EX1500
Godin Multiac Steel

 

● Ibanez FRM100 TR, mit drei DiMarzio PG-13 Mini-Humbucker plus Slide-Magnet
● Ibanez FRM200 mit Slide-Magnet
● Ibanez FRM100 MST mit Fernandes Sustainer, DiMarzio-Humbucker plus Slide-Magnet
● Ibanez FRM1 Custom Shop mit Slide-Magnet
● Ibanez FRM Purple Custom Shop mit Locking-Tremolo und DiMarzio Air Classic
● Ibanez FRM ‚Kikusui‘ Custom Shop mit DiMarzio Air Classic
● Ibanez PM120 mit DiMarzio-Eric-Johnson-Pickups
● Ibanez Artist 2622 Ibanez Ghostrider mit DiMarzio-Pickups
● Ibanez RS315 mit DiMarzio-Pickups plus Slide-Magnet
● Ibanez EX1500 mit DiMarzio-Pickups
● Godin Multi-Acoustic Steel
● Rickenbacker Bass mit EMG-Pickups und Badass-Brücke
● Marshall JTM-1, 1-Watt Combo
● Fender Princeton Reverb
● JHS PG-14 Overdrive
● TC Electronic MojoMojo
● Supro Drive
● Dunlop Cry Baby Wah
● Vent II Leslie Simulator
● MXR Stereo Chorus
● MXR Phase 100
● JHS Bonsai
● JHS Kilt V2
● Catalinbread Topanga Spring Reverb
● Ernie Ball RPS 8 (0.08 – 0.38)
● Tortex The Wedge 0.50mm Plektren
● DiMarzio Patch Cables
● Coily Cable Divine Noise

(erschienen in Gitarre & Bass 09/2021)

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