Im Interview

Jimmie Vaughan: Retrospektive

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(Bild: Mary Andrews)

Interviews mit der Blues-Koryphäe Jimmie Vaughan sind wie eine musikalische Zeitreise: Man blickt zurück in die späten 1960er, streift die 70er und 80er, erfährt etwas über Tragödien der 90er und landet schließlich in der Aktualität, die kaum weniger aufregend ist als Vaughans 50-jährige Karriere. Im letzten Jahr kam mit ‚The Jimmie Vaughan Story‘ eine fünf CDs umfassende Retrospektive auf den Markt, die neben vielen unbekannten oder sogar unveröffentlichten Songs auch eine Flut an tollen Fotos aus allen Phasen seiner Laufbahn beinhaltet.

Darauf zu sehen sind einige der größten Blues-Musiker aller Zeiten im Zusammenwirken mit Vaughan, eine wunderbare „Begleiterscheinung“ zur Musik der hochwertigen Box. Natürlich haben wir die Gelegenheit genutzt, uns mit dem 70-jährigen Jimmie zu verabreden, um über den Blues und (Fender-) Gitarren, über Einflüsse und Idole zu sprechen. Und natürlich auch über den tragischen Tod seines jüngeren Bruders Stevie Ray Vaughan, der im August 1990 bei einem Hubschrauberabsturz den Tod fand und nicht nur im Leben der Familie Vaughan eine riesige Lücke hinterlassen hat.

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Hier nun also das Gespräch mit einer echten Blues-Legende, die so ziemlich alles erlebt und jeden getroffen hat, der mit der Geschichte dieser Musikrichtung im Zusammenhang steht.

Jimmie, kannst du bitte mal kurz etwas über die neue Box ‚The Jimmie Vaughan Story‘ erzählen. Woher stammen die Aufnahmen, woher die vielen Fotos?

Ich habe mein gesamtes Archiv sorgsam durchforstet und nach Aufnahmen gesucht, die möglichst spannend oder sogar bis dato noch unveröffentlicht sind. Ein erheblicher Teil des Materials in der ‚The Jimmie Vaughan Story‘ ist tatsächlich unveröffentlicht. Ich war überrascht, dass man in den unterschiedlichsten Ecken meines Hauses diese Mengen an unreleasten Songs finden konnte. Das Besondere an der neuen Box: Sie umspannt meine gesamte Karriere, komplette 50 Jahre, in denen ich Musik mache. In dem beigefügten Buch findet man Fotos aus allen Phase meiner Karriere. Es war auch für mich selbst außerordentlich spannend, all diese Bilder wieder zu entdecken.

Kannst du Veränderungen oder Weiterentwicklungen deines Stils feststellen, wenn du alte Aufnahmen mit neueren vergleichst?

Ja, vielleicht gibt es kleinere Veränderungen, aber generell klingt es immer nach mir. Ich habe mein Leben lang die gleiche Art Musik gemacht, und habe immer das gespielt, was mir mein Herz gesagt hat. Natürlich gibt es dann hier und da auch mal ein paar kleinere Änderungen oder Weiterentwicklungen. Aber nicht im großen Stil und nicht generell. Weißt du: Mein bisheriges Leben kommt mir wie eine lange Reise vor. Ich kann selbst kaum glauben, was ich in all den Jahren alles gemacht habe.

Und das Beste daran ist: Ich liebe meine Musik heute noch mehr als früher. Ich mochte den Blues schon immer, aber heute liebe ich ihn noch stärker als in den ersten Jahren meiner Laufbahn. Ich liebe den Blues, den Rhythm’n’Blues, ich liebe Hillbilly und Country. Darüber vergesse ich oftmals, was es heutzutage noch alles an anderen Musikstilen gibt. Ich habe in all den Jahren einfach immer das gespielt, was ich selbst gerne hören wollte. Und ich habe dabei stets gehofft, im Laufe der Zeit noch besser, noch erfahrener, noch souveräner zu werden.

In der Retrospektive: Überwiegen die schönen Momente, oder gibt es auch Erinnerungen an schwere, unglückliche Zeiten?

Generell habe ich fast nur gute Erinnerungen an mein bisheriges Leben. Aber: Auch ich musste meine Lektionen lernen. Aber gerade deshalb habe ich heute ein festes Rückgrat. Ich liebe es noch immer, meine Gitarre in die Hand zu nehmen, die Jungs meiner Band zu treffen. Natürlich musste auch ich schlimmere Erfahrungen machen, war gelegentlich in großen Schwierigkeiten. Dennoch fühle ich mich als vom Leben verwöhnter Mensch, der seit 50 Jahren seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann und schon jetzt wieder an einem neuen Album arbeiten darf.

Wir sprachen gerade über schwierige Zeiten. Der Tod deines kleinen Bruders Stevie Ray Vaughan im August 1990 nach einem Hubschrauberabsturz muss einer der schwärzesten Momente deines Lebens gewesen sein.

Oh ja, eine Tragödie, ein echter Schock. Wenn man seinen kleinen Bruder verliert, dann verliert man einen wichtigen Teil seines eigenen Lebens.

Du bist nach Stevie Rays Tod vier Jahre lang nicht aufgetreten.

Das stimmt, und weißt du weshalb nicht? Weil ich nicht ertragen konnte, dass überall die Menschen mir kondolieren wollten. Ich hätte nicht gewusst, was ich darauf antworten sollte. Einer Familie kann nichts Schlimmeres passieren, als wenn das jüngste Kind stirbt. Ich habe nie aufgehört, zuhause Gitarre zu spielen, aber ich wollte für viele Monate nicht in die Öffentlichkeit. Weißt du: Sogar beim Lebensmittelhändler kamen die Leute zu mir, wollten mir die Hand schütteln und mir sagen: „Es tut uns so leid, Jimmie!“ Was hätte ich ihnen sagen sollen? Alle waren unglaublich nett zu mir, aber ich stand ja unter Schock und hätte nicht gewusst, wie ich mich verhalten sollte.

Irgendwann fand ich zum Glück mit Hilfe anderer Menschen zurück ins öffentliche Leben, zurück zur Musik. Aber bis heute geht es mir schlecht, wenn ich an damals zurückdenke. Es wirkt für mich immer noch surreal, obwohl es natürlich bittere Wirklichkeit ist und ich sämtliche Details des Unglücks kenne. Aber das Gefühl, dass es irgendwie unwirklich ist, verfolgt mich bis heute. Ich vermisse meinen kleinen Bruder, und ich vermisse meine Mum und meinen Dad.

(Bild: Gage Skidmore)

Du warst derjenige, der Stevie Ray das Gitarrenspielen beigebracht hat.

Ja, so war es. Ich war vier Jahre älter als Stevie Ray, und alles was ich besaß, war eine Gitarre und eine Plattensammlung. So lernte Stevie zunächst meine Schallplatten kennen und dann die Art, wie man diese Songs auf der Gitarre spielen kann. Als Kinder teilten Stevie und ich uns ein Doppelzimmer, in dem nur zwei wirklich wichtige Dinge standen: meine Gitarre und mein Plattenspieler. Also hörten wir den gesamten Tag über Musik, und wenn ich mal für kurze Zeit meine Gitarre aus der Hand legte, griff Stevie sie sich sofort. Er hat die ersten Sachen von mir gelernt.

Waren deine Gitarren schon von Beginn an überwiegend Fender?

Oh nein, ich hatte zum Beispiel bereits sehr früh auch eine Gibson Les Paul, und zwar eine Black Beauty. Meine allererste Gitarre war eine Gibson mit nur einem Pickup und ohne Cutaway. Später hatte ich auch eine ES-330 und eine L5, eine riesengroße Jazz-Gitarre. Aber interessanterweise griff ich immer dann nach meiner Fender Stratocaster, wenn ich zu einem Gig musste.

Was hat die Stratocaster, was dich so sehr anspricht?

Ich weiß nicht, ich liebe einfach Stratocaster und Telecaster. Für mich sind sie wie Raumschiffe, wie ein 59er Cadillac: zeitlos und wunderschön! Man kann mit ihnen verrückte Geräusche machen, aber auch die schönsten Melodien spielen. Man kann sie auf den Boden werfen, und wenn man sie dann wieder aufhebt, funktionieren sie noch immer. Ich erinnere mich noch genau, wie ich als kleiner Junge auf ein zweiseitiges Fender-Prospekt starrte, auf dem nur drei oder vier Modelle abgebildet waren. Aber ich war so fasziniert, dass ich schon am nächsten Tag in den Bus stieg, nach Downtown Dallas fuhr und mir dort vor einem Schaufenster diese Gitarren im Original anschaute. Fender Strats haben genau die Pickups, die ich mag, die perfekten Bünde. Ich liebe vor allem die 50er-Modelle, sie sind für mich wie Rennwagen: Du schraubst ein wenig an ihnen herum und holst noch mehr aus ihnen heraus, als du erwartet hattest.

(Bild: Mary Andrews)

Bei solchen Liebeserklärungen ist es kein Wunder, dass Fender dir ein eigenes Signature-Modell gewidmet hat.

Vor 25 Jahren kam Fender auf mich zu und entwickelte für mich die Tex Mex, das Jimmie-Vaughan-Modell. Eine unglaubliche Ehre für mich. Die neueren Modelle stammen aus dem Custom Shop. Sie fragten mich seinerzeit: „Was für eine Gitarre möchtest du?“ Und ich antwortete: „Puh, schwierige Frage, wo ich doch die perfekte Gitarre bereits in den Händen halte.“ (lacht) Aber sie bauten mir in Mexiko die Tex Mex, und ich fühlte mich geschmeichelt.

Welchen Amp bevorzugst du?

Ich stehe total auf den Fender Bassman mit 4x10er-Speaker. Alles in allem ist dies meiner Meinung nach der beste Verstärker der Welt. Okay, es gibt natürlich auch tolle Custom-Shop-Amps, tolle Boutique-Amps, aber die Erfindungen von Leo Fender haben jeden „test of time bestanden“.

Effektpedale sieht man bei dir zumeist nur sehr wenige.

Das ist richtig. Manchmal verwende ich ein Leslie-Pedal, manchmal auch ein Tremolo oder ein Reverb. Aber meistens sind es nur meine Gitarre, mein Amp und ein Tremolo-Pedal. Wusstest du übrigens, dass ich seit einiger Zeit Flatwound-Strings bevorzuge?

Ich las darüber im Internet.

Ja, bei der E-, der A- und der D-Saite nehme ich jetzt Flatwounds. Und weißt du weshalb?

Na!?

Sie klingen besser, sie schmerzen nicht so sehr in den Fingern, und sie lösen das Problem, dass bei einer E-Gitarre die tiefen Saiten oftmals lauter klingen als die hohen Saiten. Mit Flatwounds passiert dir dies nicht. Auf der G-, der B- und der hohen E-Saite nehme ich Unwound-Strings, auf den übrigen drei Saiten sind es Flatwounds.

Sammelst du eigentlich Gitarren?

Was heißt sammeln? Ich habe einige Exemplare in meinem Haus, ich tippe so auf an die 15 bis 20 alte Gibsons inklusive der L5, dazu eine Reihe Strats und Telecasters. Und ein paar andere, eher seltenere Exemplare, darunter auch einen sechssaitigen Longhorn-Bass von Danelectro.

Du verkaufst also nie Instrumente?

Kaum. Ein paar Gitarren sind über die Jahre verlorengegangen oder wurden gestohlen, und mitunter spende ich eine meiner Gitarren für einen guten Zweck. Aber wenn du fragst, ob ich Sammler bin: Nein, ich ziehe nicht mehr los und suche gezielt nach Instrumenten.

Dagegen scheinst du berühmte Gastmusiker zu sammeln, oder? Kaum ein internationaler Blues-Star, mit dem du noch nicht die Bühne oder das Studio geteilt hast.

Ja, das könnte man so sagen. Es ist einfach unglaublich: Wenn du als junger Mensch eine Musik findest, die dir wirklich etwas bedeutet, kannst du dir in deinen kühnsten Träumen kaum vorstellen, wie es ist, wenn du eines Tages deine eigenen Idole triffst. Ich habe sie alle getroffen: Jimmy Reid, John Lee Hooker, Lazy Lester, James Cotton oder auch Billy Gibbons, mit dem ich übrigens gerade gestern erst wieder auf der Bühne gestanden habe. Und nächste Woche spiele ich im Vorprogramm von Eric Clapton. Unfassbar, oder? Eric Clapton und Billy Gibbons gehören ebenso zu meinen Helden wie Little Milton, B.B. King, Lightnin’ Hopkins. Ich habe es immer geliebt, mit diesen tollen Musikern zu jammen.

Würdest du diese Stars als deine Freunde bezeichnen?

Ja, zumindest einige von ihnen. Wenn man sich über die Jahre immer mal wieder trifft, werden aus Bekanntschaften irgendwann fast automatisch Freundschaften. Ich meine: Viele von ihnen kenne ich seit den Siebzigern oder Achtzigern, ist doch klar, dass man sich dann mit einigen von ihnen anfreundet. Das ist ja das Tolle an meiner neuen CD-Box: Man trifft sie dort alle wieder, Buddy Guy und Robert Cray, Delbert McClinton und Denny Freeman, meine Kollegen von den Fabulous Thunderbirds. Es ist ein überragendes Gefühl, wenn man all diese Namen im Zusammenhang mit mir liest.

Seit März 2021 bist du stolze 70! Welche Ziele hast du für die Zukunft? Gibt es noch unerfüllte Träume?

Mein großes Ziel lautet: noch mehr Schallplatten produzieren, noch mehr Songs schreiben, noch mehr Studioaufnahmen machen, noch mehr Gigs spielen. Und in diesem Moment, in dem wir gerade sprechen, bin ich tatsächlich genau in der Mitte der Planungen für all diese Vorhaben.

Hoffentlich demnächst auch mal wieder in Deutschland!

Ja, das wünsche ich mir auch.

(erschienen in Gitarre & Bass 11/2021)

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