Spiel ohne Grenzen

Interview: Steven Wilson

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(Bild: Lasse Hoile)

Erwartungshaltungen sind dazu da, um ad absurdum geführt zu werden. Meint zumindest Steven Wilson, der sich von seinen eigenen Fans missverstanden und in seiner künstlerischen Freiheit reduziert sieht. Eben auf einen plumpen Musikdienstleister, der nur spielen und singen darf, was die breite Masse von ihm erwartet. Und das ist nun einmal Prog-Rock im Sinne seines bekanntesten Bandprojekts Porcupine Tree. Dabei ist der 53-Jährige längst woanders – das hat schon sein letztes Werk ‚To The Bone‘ verdeutlicht. Mit ‚The Future Bites‘ folgte der radikale Nachschlag.

Ein Werk, das für einige Fans einer Zahnwurzelbehandlung gleichkommen dürfte. Eben weil es nichts mit dem alten Steven Wilson gemeinsam hat, der mit Porcupine Tree auf den Spuren von Pink Floyd und King Crimson gewandelt ist. Denn ‚The Future Bites‘ tendiert nicht zum Episch-Bombastischen, sondern zum Minimalistischen, Reduzierten. Ein Werk, das mit Synthie-Pop, Electronica und einem Hauch von White Funk flirtet, das kaum noch Gitarren, aber umso mehr Beats, Loops und Samples aufweist, das unterkühlt, distanziert und mystisch anmutet und im Grunde nur einem Zweck folgt: Der radikalen Distanzierung und Abgrenzung von der eigenen musikalischen Vergangenheit.

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INTERVIEW

Steven, was veranlasst dich zu der Aussage, dass die Zukunft „bissig“, also gefährlich ist?

Als ich vor zwei Jahren anfing, an diesen Songs zu arbeiten, durchliefen wir in Großbritannien gerade diesen Brexit-Quatsch. Und da ich viel Zeit im Internet verbracht habe, fiel mir auf, dass die Leute immer aggressiver, streitlustiger und rechthaberischer werden. Dass alles immer mehr schwarz oder weiß ist, aber es kaum noch Dialoge oder Kompromisse gibt. Fast so, als ob die menschliche Evolution von dieser Technik namens Internet gestoppt wird – und die Trump-Regierung hat das Aggressive und Pessimistische noch auf die Spitze getrieben.

Im Sinne von: Es ist schwer, optimistisch zu bleiben, wenn man mit dieser ganzen Negativität bombardiert wird. Was auch damit zu tun hat, dass wir große Probleme im Umgang mit all der Technik haben. Also dass wir nicht verstehen, worauf wir uns da einlassen – und den Preis dafür bezahlen. Ich lese das z. B. an der Explosion des Online-Handels und der sozialen Medien ab, von der wir nicht wissen, wie sie uns als Menschen beeinflusst und prägt.

Also eine Gesellschafts- und Konsumkritik?

Ja, wobei ich mich vom Verhalten anderer Menschen nicht ausnehmen kann: Auch ich liebe es zu shoppen, gerade was Boxsets und Vinyl-Editionen betrifft. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, wie heimtückisch die Industrie ist und dass sie uns schon so weit gebracht hat, dass wir mit großer Begeisterung Sachen erwerben, die wir eigentlich nicht brauchen. Und die Musikindustrie ist da besonders durchtrieben: Sie tischt uns immer wieder neue Deluxe-Editionen von Musik auf, die wir schon mindestens drei Mal gekauft haben – als Original-LP, dann als CD und als Deluxe-Ausgabe mit Bonus-Material. Jetzt setzt sie noch eins drauf – mit der großen, teuren 5-CD-Box mit Demos, Live-Material, Outtakes, der Blu-ray und dem 5.1-Mix. Damit verleitet sie uns, dasselbe noch einmal zu kaufen.

(Bild: Lasse Hoile)

Ließ sich dieses Konsum-Thema, das etwas Futuristisches und Bedrohliches hat, nur mit einem korrespondierenden Sound umsetzen? Eben mit Keyboards statt E-Gitarren?

Konzeptionelle Überlegungen spielen da nur zum Teil eine Rolle. Zunächst einmal möchte ich immer das machen, was am wenigsten von mir erwartet wird – und das ganz anders ist als das Vorgängeralbum. Nach dem Motto: „Es gibt keinen Grund, einfach zu wiederholen, was ich schon einmal getan habe. Also probiere ich etwas Neues. Woran habe ich mich noch nicht versucht?“ Schließlich hatte ich schon bei ‚To The Bone‘ das Gefühl, dass ich mit Gitarre, Bass und Schlagzeug im Grunde alles gesagt habe. Und ich bin ja nicht der Einzige, dem es so geht: Führt man sich die aktuelle Rockmusik vor Augen, ist sie alles andere als spannend. In den letzten 20 Jahren hat sie es schlichtweg verpasst, sich selbst neu zu erfinden – dabei war sie genau darin mal sehr gut.

Die wenigen Gitarren-Soli auf dem Album erinnern an Carlos Alomar auf Bowies ‚Scary Monsters‘: Sie sind sehr schrill, verzerrt und brachial. Warum hast du dich für diese Gangart entschieden?

In erster Linie hat es damit zu tun, dass ich der einzige Gitarrist auf diesem Album bin. Also, dass ich bewusst auf andere Musiker verzichte und wirklich alles alleine mache – ich spiele Gitarre, Bass und Keyboards. Von daher ist es im Grunde das eigenständigste Soloalbum, das ich je gemacht habe. Und auch hier gilt, dass ich mich jedes Mal, wenn ich zur Gitarre gegriffen habe, sehr gelangweilt habe. Ich hatte das Gefühl, als ob ich bereits alles gesagt hätte. Und als ich mit David Kosten im Studio war, haben wir sie zwar auch eingesetzt, aber eher wie ein Werkzeug zum Klangdesign statt als Solo-Instrument. Und auch die wenigen Soli, die hier auftauchen, sind nicht konventionell, sondern extrem kantig.

Was hältst du von Ed O‘Brien, der seine Gitarren bei Radiohead derart verfremdet, dass sie wie Synthesizer klingen?

Ach, das mache ich schon meine gesamte Karriere. Und es kommt immer wieder vor, dass ich Rezensionen lese, in denen es heißt, wie toll dieses oder jenes Keyboard-Solo wäre – wo ich mich dann frage: „Moment Mal, das ist eine Gitarre. Erkennen die das nicht?“ Und ich war schon immer fasziniert davon, wie man den Sound dieses Instruments anpassen, manipulieren, verstecken oder als strukturelles Element, als Werkzeug zum Klangdesign, verwenden kann. Ich finde es spannend, jemand zu sein, der Alben aufnimmt und dafür sämtliche Werkzeuge verwendet, die irgendwie verfügbar sind. Ich gehe die Gitarre nicht wie ein typischer Musiker an.

Ich habe auch kein Problem damit, einfach mal sechs Monate am Stück gar nicht zur Gitarre zu greifen. Wenn ich nicht an einem Album arbeite und insofern keine Gitarre brauche, rühre ich sie gar nicht erst an. Ganz im Gegensatz zu richtigen, hauptberuflichen Gitarristen, die permanent spielen, ihre Fähigkeiten verfeinern und geradezu süchtig nach dem Instrument sind – die es jeden Tag mehrere Stunden bearbeiten müssen. Ich habe keine Liebesbeziehung zur Gitarre – eher eine zur Musik an sich. Und aktuell habe ich eine heftige Affäre mit den Möglichkeiten, die mir das Experimentieren mit Sounds und Frequenzen bieten. Die Gitarre ist nur eines von vielen Werkzeugen, das ich dafür einsetzen kann.

(Bild: Lasse Hoile)

Wobei ich aber nicht missverstanden werden möchte: Ich denke immer noch, dass sie ein außergewöhnliches Instrument ist und sich damit viel mehr anstellen lässt, als die meisten Leute für möglich halten. Wer weiß: Vielleicht ist die Art, wie ich die Gitarre auf diesem Album verwende, ja auch ein Ausdruck davon. Einfach, weil sie in einigen Momenten nicht sofort als Gitarre zu erkennen ist. Das Solo auf ‚Follower‘, das wie ein extrem kantiges, elektronisches Gitarrensolo anmutet, ist zum Beispiel auf einem Akustik-Modell entstanden. Darauf würde wohl niemand kommen, und genau das finde ich spannend.

Hast du sie durch einen Verstärker oder direkt durchs Pult eingespielt?

Durch mein Pedalboard und meinen Verstärker, wobei sowohl die Fuzz-Pedals, wie auch der Amp auf Verzerrung eingestellt waren. Der Sound basiert aber einfach darauf, wie die akustische Gitarre auf dieses Setup reagiert: Sie entwickelt eine Art hässlichen Sound, den ich für dieses Solo aber sehr gut finde. Dasselbe habe ich auf einer elektrischen Gitarre versucht, aber einfach nicht denselben Biss und dieselbe Kantigkeit hinbekommen, wie mit einem akustischen Instrument.

Welche Gitarren hast du überhaupt für das Album verwendet? Irgendwas Neues, Anderes als auf den Vorgängern?

Nein, es war einfach meine 63er-Custom-Tele.

Inwieweit hat dein aktueller Sound mit bewusster Verweigerung zu tun? Etwa gegenüber Erwartungshaltungen, von denen du dich befreien willst?

Es zeugt zumindest von einer gewissen Sturheit, die ich aber als fundamentalen Teil von mir erachte. Ich war schon immer mehr daran interessiert, Erwartungen entgegenzutreten statt ihnen gerecht werden zu wollen. Das ist etwas, das weit in meine Kindheit zurückreicht – zu den Künstlern, die mich inspiriert haben. Wie Bowie, Kate Bush, aber auch Filmemacher wie Stanley Kubrick, der immer nur ein Werk pro Genre gedreht und dann etwas ganz anderes probiert hat. Es ist seltsam, dass diese Art von Karriere nichts Ungewöhnliches für die Filmwelt ist, aber ganz und gar unakzeptabel im Musikgeschäft.

Eben dass einem da nicht zugestanden wird, sich zu verändern und sich den Erwartungen seiner Hörer entgegenzustellen. Wobei es natürlich auch Ausnahmen gibt, allen voran David Bowie und die Beatles. Ich meine, John, Paul, George und Ringo haben sich mit jedem Album neu definiert. Und ich sehe mich durchaus als Künstler in dieser Tradition.

(erschienen in Gitarre & Bass 03/2021)

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Kommentare zu diesem Artikel

  1. Meiner Meinung nach kann jeder die Musik, den Film oder Comic machen den
    er will…letzten Endes entscheide ich ob mir das Teil dann gefällt und ob
    ich Geld dafür ausgeben möchte. Wenn da also ein Stil geändert wird (kann mir
    gefallen oder nicht) oder eine sogenannte “Weiterentwicklung” stattgefunden
    hat und es der “Stammkundschaft” nicht gefällt sollte man nicht jammern
    sondern sein Ding durchziehen. Vielleicht kann Herr Wilso ja bei einer
    Reunion von ABBA als fünftes Bandmitglied agieren. Höre ich mir dann auch nicht an.Dank an Ihn für so
    viele Musik welche vielfach meine Seele erreicht hat.

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