Im Interview

Long Distance Calling: Klangästheten

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(Bild: Andre Stephan)

Bereits seit ihrem Debütalbum ‚Satellite Bay‘ im Jahre 2007 eilt den vier Mitgliedern der Münsteraner Progressive-Rockband Long Distance Calling der Ruf besonders versierter und innovativer Soundtüftler voraus. Auch ihr neuestes Werk ‚How Do We Want To Live?‘, der Nachfolger des vergleichsweise rockigen ‚Boundless‘ (2018), bestätigt diese glänzende Reputation und erweist sich zudem als stilistische Weiterentwicklung.

Wir haben uns mit den beiden Gitarristen David Jordan (DJ) und Florian Füntmann (FF) in ihrem Studio/Proberaum getroffen und alle wichtigen Eckdaten einer in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Veröffentlichung erörtert.

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INTERVIEW

Gitarrist Florian Füntmann mit seiner Helliver Firebug, Bj. 2011
Gitarrist David „Dave“ Jordan mit seiner Helliver Momentum, Bj. 2016

Inwiefern ist euer neues Album eine Art Reaktion auf den Vorgänger ‚Boundless‘? Oder würdet ihr eher von einer Weiterentwicklung eures Stils sprechen?

DJ: Ich würde es eher als Reaktion bezeichnen. ‚Boundless‘ war für unsere Verhältnisse relativ hart, Riff-lastig und Metal-mäßig, auch wenn natürlich ebenso Pink-Floyd-ähnliche Parts darauf zu finden waren. ‚How Do We Want To Live?‘ geht etwas stärker in die elektronische Richtung, diesmal jedoch nicht – wie vor vier Jahren bei ‚Trips‘ – ausschließlich im Hintergrund, sondern auch kompositorisch deutlich weiter vorne.

Hat sich die rockigere Ausrichtung von ‚Boundless‘ in den Konzerten bewährt? Oder fühlte es sich für euch komisch an?

FF: Nein, überhaupt nicht. Wir haben die ‚Boundless‘-Songs gleichmäßig auf die Show verteilt. Das Set fing immer mit einem harten Stück an, im Mittelteil wurde es dann etwas ruhiger, und am Ende folgten wieder härtere Nummern, um die Leute aus der entspannten Atmosphäre aufzuwecken.

DJ: Ob ein Album funktioniert oder nicht, merkt man als Band immer daran, wie viele Songs man davon live berück­sichtigt. Von ‚Boundless‘ haben wir reichlich Stücke gespielt.

FF: Außerdem konnte man an der Reaktion des Publikums erkennen, dass die ‚Boundless‘-Songs sofort angenommen wurden, was bei einem nagelneuen Album nicht immer automatisch der Fall ist.

Aber weshalb dann keine weitere rockige Scheibe?

DJ: Wir hatten das Gefühl, dass wir ‚Boundless‘ nicht toppen können. Für mich ist es unsere bislang stärkste Scheibe, zu der wir keine Konkurrenz aufbauen, sondern stattdessen lieber andere Elemente in unseren Sound einbauen wollen. Wir wollten nicht Gefahr laufen, eine schlechtere Version von ‚Boundless‘ aufzuneh­men. Denn so etwas braucht natürlich niemand.

FF: Wir sind nun einmal nicht AC/DC, die seit 40 Jahren die gleiche Platte aufnehmen. Jetzt nicht falsch verstehen: Ich stehe total auf AC/DC. Aber bei uns funktioniert so etwas nun einmal nicht. Zumal jedes Album immer auch eine Momentaufnahme unseres jeweili­gen Geschmacks ist. Und bei ‚Boundless‘ standen wir halt auf här­tere Nummern.

Füntmanns Pedalboard mit Lehle Mono Volume, Digitech CR7 Chorus, Digitech DL8 Delay, Digitech RV7 Reverb, T.C. Electronic ND1 Nova Delay und Lehle P-Split II (Bild: Matthias Mineur)

Es gibt bei euch also immer einen Masterplan, den ihr von Beginn des Songwritings an gezielt abarbeitet?

DJ: Nein. Janosch (Rathmer, Schlagzeuger der Band) hatte einfach Lust, sich in die elektronische Abteilung einzuarbeiten. Dadurch entstand automatisch eine weitere Zutat unseres Sounds. Jeder von uns bringt seine aktuellen Inspirationen in die Band ein, das kann im Fall von Janosch ein Synthie-Part sein, der am Ende möglicherweise gar nicht genommen wird, aber als Trigger etwas in Gang setzt, was wir schließlich verwenden. Oder ich komme wieder mit meiner üblichen Jeff-Beck-Scheiße an, auf die zwar keiner Bock hat, aber die irgendetwas auslöst. So entstehen dann unsere Stücke.

FF: Am Ende werden die Songs sowieso immer ganz anders, als man ursprünglich erwartet hatte. Wenn ich mit einer Idee ankomme und den Ein­druck habe, das Riff sei voll geil und müsse unbe­dingt genauso verwendet werden, gibt es immer mindestens einen in der Band, der es voll öde findet, sodass der Song am Ende ganz anders klingt, als ich es mir vorgestellt hatte.

Euer Proberaum hier in Münster ist gleichzeitig eure Kreativschmiede und euer Studio, richtig?

DJ: Bei den letzten Scheiben wurden die Arbeiten auch schon mal in irgendwelche Bretterbuden im Wald ausgelagert. Doch diesmal war das nicht der Fall. ‚How Do We Want To Live?‘ ist komplett hier im Proberaum entstanden und aufgenommen worden.

FF: Wobei hier die Bedingungen ja auch nahezu ideal sind, da unser Proberaum ziemlich abgeschieden liegt und weder wir gestört werden noch andere stören. Man hat seine totale Ruhe. In einem Gebäude mit mehreren Proberäumen stelle ich es mir ziemlich schwierig vor, wenn man acht Stunden lang versucht, konzentriert zu arbeiten und nebenan ständig irgendwelche Blastbeats oder sonstiger Lärm zu hören sind, während man gerade an einer ruhigen Nummer schreibt.

Beginnt ihr mit den Aufnahmen eines Albums immer erst dann, wenn das gesamte Material fertig ausgearbeitet ist? Oder laufen eure Produktionen eher in einem fließenden Prozess ab?

FF: Ab den Aufnahmen zu ‚The Flood Inside‘ gab es bei uns immer eine Vorproduktion, bei den drei vorherigen Alben wurde noch nach traditioneller Weise gearbeitet. Vorproduktionen haben den Vorteil, dass man korrigierend eingreifen kann, wenn man feststellt, dass etwas nicht funktioniert. Oder wenn man hört, dass der Sound nicht stimmt und man es lieber noch einmal mit einem anderen Gitarren-Amp versuchen sollte. So etwas ist bei einer fließenden Produktion natürlich jederzeit möglich.

Welches waren diesmal eure Haupt-Amps?

DJ: Ein Diezel Hagen, ein Friedman Dirty Shirley und ein Peavey 5150.

Peavey 5150, Diezel Hagen und Friedman Dirty Shirley (Bild: Matthias Mineur)

Wurden die Amps pro Song oder pro Sound zugeteilt?

FF: Es gibt auf jeden Fall einen Amp, den man wirklich nur für einen einzigen Sound verwenden kann. (lacht)

DJ: Mit Florians 5150 ist das wirklich krass. Wir nutzen ihn im Aufnahmekontext fast nie für verzerrte Sounds, dafür hat er aber einen – wie soll man es diplomatisch formulieren? – sehr eigenwilligen cleanen Sound, der echt komische Artefakte bildet, wenn man mit Effekten hineingeht. Der Peavey überwirft sich sonderbar, bekommt merkwürdig kratzige Obertöne und reagiert sehr eigenständig auf die Effekte, mit denen Florian ihn befeuert. Diesen Amp würde ich auf jeder Scheibe sofort wiedererkennen, zumal er sich zu unserem charakteristischen Sound entwickelt hat. Ich muss allerdings sagen, dass ich den 5150 nicht spielen könnte, da ich mit meinen Effekten erst hinter dem Amp reingehe, während Florian sie vor dem Preamp spielt.

Garant für den guten Sound: Toff The Slowblow MK2 Preamp

Ist der 5150 dein Live-Amp, Florian?

FF: Ja, auf der Bühne spiele ich ihn durchgehend, im Studio dagegen kommt er nur für die spacigen, abgefahrenen Sounds zum Einsatz. Ich frage mich dann häufig selbst: Wie macht der Amp das eigentlich?

Für welche Sounds wurde der Friedman Dirty Shirley im Studio eingesetzt?

DJ: Auf ‚How Do We Want To Live?‘ kam er vor allem für die crunchigen Sounds zum Einsatz, einmal auch für ein Riff, aber nicht für High-Gain-Sounds, die er übrigens auch sehr gut kann. Der Friedman liefert nicht nur Classic Rock ab, sondern reagiert wunderbar auf unterschiedliche Spieldynamiken, und zwar allein schon über den Volume- oder Tone-Poti oder ab einem gewissen Zerrgrad auf die rechte Hand, ohne dass man ihn ständig umschalten muss.

Und der Diezel Hagen?

DJ: Der kam für nahezu alle heavy Rhythmusgitarren zum Einsatz, übrigens für uns zum ersten Mal auch in Verbindung mit vielen Singlecoil-Sounds. Vor allem der dritte Kanal schmatzt so richtig schön, trotzdem eignet sich der Diezel auch für cleane Sounds.

Weshalb habt ihr diesmal verstärkt auf Singlecoils gesetzt?

DJ: Singlecoils klingen offener und haben im Obertonbereich ein tolles Soundverhalten. Wenn man ein weiteres Element wie etwa einen Synthesizer hinzunimmt, muss man frequenzmäßig unten herum mehr Platz lassen.

FF: Im Song ‚Immunity‘ gibt es am Ende ein hartes Riff. Schon beim Komponieren stand fest, dass es in Richtung Strat gehen muss. Üblich wäre, ein solches Riff mit Humbucker zu spielen, aber das hätte uns zu klischeemäßig geklungen. Wir wollten, dass es abgefahrener klingt, deshalb haben wir für den Part Singlecoils gewählt.

Wie viele Gitarrenspuren pro Song habt ihr aufgenommen?

FF: Die Riff-Gitarren wurden immer links/rechts gelegt, die Lead-Gitarre wurde dann in die Mitte oben drüber gepackt. Wobei wir – und das machen wir schon seit langer Zeit – keine Gitarren mehr doppeln. Wenn wir eine zweite Rhythmusgitarre brauchen, weil das Riff hart klingen soll, dann spielen wir halt zwei unterschiedliche Rhythmusgitarren links und rechts ein, und mitunter, wie in der Nummer ‚Sharing Thoughts‘, sogar mit unterschiedlichen Voicings, um eine größere Dynamik zu erzielen.

Gibt es in den Songs weitere Overdub-Gitarren?

DJ: Nur ganz wenige. Wir wollten unbedingt die große Transparenz im Gesamtsound behalten. Wir mögen es, wenn jedes Instrument seinen eigenen Platz im Klangbild hat, zumal Florian und ich zumeist unterschiedliche Harmonien spielen, die man im Kontext auch verstehen soll. Denn je voller das Arrangement ist, umso weniger Raum bekommt das einzelne Instrument.

FF: Außerdem nehmen wir unsere Songs immer möglichst genauso auf, wie wir sie später auf der Bühne auch tatsächlich spielen. Wir wollen vermeiden, dass der Eindruck fehlender Spuren entsteht. Natürlich gibt es auf den Alben hier und da mal die eine oder andere Effektgitarre, auf die man live verzichten muss, aber das fällt für den Gesamtsound nicht so sehr ins Gewicht.

Welche Gitarren kamen bei den Aufnahmen zum Einsatz?

DJ: Aus dem Helliver-Programm hatten wir eine 2011er Firebug mit Häussel-Perl-Set, eine Velocity mit Amber-Classic-Standard-Humbucker in der Brücke und Amber-Vintage-Tele am Hals, plus eine Momentum von 2016, eine Classic Double Clara von 2009 und eine 2007er Helliver F mit Häussel-Perl-Set. Hinzu kamen eine Gibson Les Paul Special von 1995 und eine Fender CS Strat mit Amber-Holy-50-Set.

FF: Im Vergleich zur letzten Scheibe sind wir diesmal an die Produktion etwas spartanischer herangegangen. Bei ‚Boundless‘ war es fast schon ein Gitarreninferno. (lacht) Ob das letztlich notwendig war, weiß man nicht, aber es hat riesigen Spaß gemacht.

DJ: Natürlich hätte so mancher Part auch mit einer der anderen Gitarren gespielt werden können, aber wenn man die Möglichkeit hat, noch weitere fünf Prozent mehr Farbe zu bekommen, dann nutzt man das natürlich.

Gibson LP Special, Bj. 1995, mit Häussel Perl und Gibson P90
Helliver Classic Double Clara, Bj. 2009
Helliver F, Baujahr 2007, mit Häussel-Perl-Set
Helliver Classic Hollow Scarface, Bj. 2013

Nehmt ihr die Effekte schon beim Einspielen auf oder fügt ihr sie erst beim Mix hinzu?

DJ: Bei meinen Signalen werden sie erst nach dem Einspielen hinzugefügt.

FF: Ich nehme sie schon gleich beim Einspielen auf, denn ich liebe dieses Konzert-Feeling, bei dem sich ein Delay vielleicht auch schon mal ein wenig überschlägt. Ich brauche das, um das richtige Gefühl für meine Parts zu bekommen.

Welche Effekte laufen bei dir während des Einspielens permanent mit?

FF: Bei mir sind Delay, Hall und Chorus immer angeschaltet. Hin und wieder schalte ich das eine oder andere davon ab, aber generell ist dies mein Grundsound. Den Rest variiere ich mit den Potis an der Gitarre und den Einstellungen am Amp.

DJ: Im Unterschied zu mir, der alle Kanäle seines Amps für verschiedene Sounds nutzt, macht Flo das eher mit dem Volume-Pedal.

FF: So etwas läuft bei mir spontan und intuitiv ab, weshalb meine Parts auch nie ganz identisch sind. Das bedeutet aber, dass ich, wenn ich mich verspielt habe und etwas noch einmal neu aufnehmen muss, einen Part möglicherweise nicht exakt ein zweites Mal genauso klingen lassen kann wie ich es vielleicht möchte. Der Sound ist nie exakt der gleiche wie beim ersten Mal. Aber ich mag das, es ist vielleicht dieser Rock’n’Roll-Faktor, der mir daran gefällt.

Jordans Pedalboard mit Diezel-Schaltleiste

Und es klingt nie nach Copy/Paste-Funktion.

DJ: Genau darauf legen wir in der Tat allergrößten Wert. Das war auch schon bei der ‚Boundless‘ so. Beim Einspielen nervt es vielleicht gelegentlich, aber jeder Part ist dann wirklich von vorne bis hinten durchgespielt. Auch auf die Gefahr hin, dass man am Ende möglicherweise minimale Spielfehler hören kann.

Letzte Frage: Wo in eurer Bandgeschichte würdet ihr ‚How Do We Want to Live?‘ stilistisch einordnen? Wie weit ist die Scheibe von euren Anfängen entfernt, beziehungsweise wie nahe ist es stilistisch noch an eurem Ur-Sound?

FF: Spielerisch sind wir heute natürlich viel besser als auf unserem ersten Album. Damals waren wir noch nicht so gut eingespielt und haben die Scheibe an nur einem Wochenende aufgenommen. Stilistisch würde ich behaupten, dass unsere Kompositionen im Laufe der Jahre zunehmend spannender geworden sind, auch wenn es sicherlich Fans gibt, die immer noch unser Debüt am meisten lieben. Damals waren die Songs noch sehr ähnlich, alle fingen langsam und getragen an und wurden dann irgendwann hart. Heute ist dies mitunter zwar noch immer so, aber eben nicht ausschließlich.

DJ: Mir fällt auf, dass die Zahl der Einflüsse deutlich angestiegen ist, über alle Genregrenzen hinweg. Meine Platte des letzten Jahres war zum Beispiel ‚No Geography‘ von den Chemical Brothers, von der ich auch etwas über Dramaturgie und Entwicklung eines Songs gelernt habe. Die Chemical Brothers ziehen ständig am Kabel, alle zwei Takte ändert sich irgendein Element. Für mich ist das eine absolute Referenz, an der ich mich diesmal orientiert habe.

Danke für das nette Gespräch, und viel Erfolg mit eurem neuen Album!

(erschienen in Gitarre & Bass 08/2020)

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