Im Interview

Riverside: Der Mythos vom Autodidakten

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(Bild: Radek Zawadzki)

Als Riverside-Gitarrist Piotr Grudziński 2016 an einer Lungenembolie starb, hinterließ er als Mensch und kreative Triebfeder eine Lücke, die zu schließen die polnischen Progressive-Rocker lange zögerten. Maciej Meller sprang zunächst als Session-Mitglied für Konzerte ein, wurde 2020 offiziell als Mitglied aufgenommen und brachte zur gleichen Zeit sein erstes Soloalbum ‚Zenith‘ heraus.

Riverside-Bassist/Sänger Mariusz Duda hält große Stücke auf den Mitbegründer von Quidam, einer der bekanntesten Prog-Bands des Landes, der Maciej von 1991 bis 2014 angehörte. Die beiden spielten bereits in dem improvisatorisch geprägten Trio Meller/Gołyźniak/Duda zusammen, darüber hinaus kollaborierte der Gitarrist um die Jahrtausendwende herum mit Multi-Instrumentalist Colin Bass von den britischen Genre-Veteranen Camel; auf ‚Wasteland‘ (2018) gab er sein Studio-Debüt bei Riverside, auf ihrem aktuellen Album ‚ID.Entity‘ wurde er endgültig als Mitkomponist integriert.

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PAUKER UND PILZKÖPFE

Maciej, erzähl uns bitte zunächst, wie du in deiner Kindheit zur Musik gelangt bist.

Das war reiner Zufall – eine dieser Situationen, die in einer Sekunde über das ganze Leben entscheiden. Mein Musiklehrer in der fünften Klasse bemerkte, dass ich ein ziemlich gutes Ohr für Musik hatte; vielleicht wie mein Vater, der immer noch in einem Chor singt. Ich sollte dann in der Schulband einsteigen, spielte zu jener Zeit aber Basketball und interessierte mich überhaupt nicht für Musik. Ich hatte auch keine Ambitionen, ein Instrument zu lernen, sagte aber trotzdem Ja, weil ich dem Lehrer nicht widersprechen wollte. Als mich Klassenkameraden zur Probe der Band schleppten, wurde ich in die Welt der Musik hineingezogen.

Warum die Gitarre?

Ganz einfach, in unserer ersten Stunde zeigte der Lehrer mit dem Finger auf mich und sagte: „Maciej, du wirst Gitarre spielen“ Es gibt also keine romantische Geschichte, mir wurde einfach befohlen, was ich zu tun hatte. Übrigens heiratete dieser Lehrer – Marek heißt er – einige Zeit später meine Cousine, und sie besuchten neulich gemeinsam mein erstes Solokonzert, was ein cooler und rührender Moment für mich war.

Hattest du dann richtigen Unterricht oder bist du Autodidakt?

Im ersten Jahr lernte ich Akkorde, die Marek mir aufschrieb, und suchte natürlich selbst nach Inspiration, indem ich mir andere Gitarristen anschaute. In den ersten vier Jahren ging es praktisch nur um Akkorde und Rhythmik, ich habe nicht versucht, Solos zu spielen. Marek hat mir jedenfalls alle Grundlagen gezeigt, dann ging ich nach und nach allein auf Entdeckungsreise.

Trotzdem würde ich mich nicht als Autodidakten bezeichnen. Ich habe durch Zuhören gelernt, indem ich in Bands spielte, mit Musikerkollegen sprach und – was meiner Meinung nach sehr wichtig ist – aus Erfahrungen und Gefühlen im wirklichen Leben geschöpft. Nichts davon bringt man sich selbst bei, also würde ich auch behaupten, dass es generell keine Autodidakten im engeren Sinn gibt. Zumindest kenne ich niemanden, der sich auf einer einsamen Insel plötzlich als Supermusiker entpuppte.

Was waren deine frühen musikalischen Einflüsse, und wie haben sie sich mit der Zeit verändert, falls überhaupt?

Meine erste und bis heute größte Inspiration sind die Beatles. Ich hatte ihre gesamte Diskografie auf Kassetten und ich liebe alles von ihnen. Mich hat das Eklektische an ihrem Schaffen angezogen, sie experimentierten mit verschiedenen Stilen von Rock und Pop über Soul und Blues bis zu Klassik, indischer Musik, Psychedelic, Avantgarde, Country … unglaublich! Und trotzdem blieben sie die Beatles.

Ihre logische Weiterführung waren dann Queen, die genauso selbstverständlich mit Elementen aus Oper und Varieté, Heavy Metal, Punk und Disco arbeiteten. Wenn man mit solchen Bands anfängt, kann man sich danach eigentlich alles anhören, und genau so war es bei mir. Nach Queen faszinierten mich harte Blues- und Rockbands wie Led Zeppelin oder die Allman Brothers, was auch damit zu tun hatte, dass ich die Pentatonik entdeckte und endlich anfing, Solos zu spielen.

Schließlich stieß ich auf Yes, und zwar ausgerechnet durch ihr kontroverses Album ‚90125‘. Von dort aus erschloss ich mir ihre älteren Platten und den Prog-Rock-Bereich allgemein. Diese drei musikalischen Perioden – Beatles, Blues und Progressive – haben mich am stärksten geprägt, doch müsste ich mehr nennen, dann sicherlich Jazz: Miles Davis von ‚Kind of Blue‘ bis zu ‚Bitches Brew‘, John Coltrane oder auch das Mahavishnu Orchestra.

Du nennst die Amerikaner Mutemath als eine der wenigen zeitgenössischen Bands, die dich interessieren. Warum?

Ihr erstes Album klang für mich unglaublich frisch, schwungvoll und mutig, aber das ist jetzt auch schon wieder anderthalb Jahrzehnte her. Es wirkte wie ein musikalischer Meteorit, der über mich hinwegfegte, was ich zuvor auch mit Dream Theaters ‚Images and Words‘ erlebt hatte; diese Platte und der Nachfolger ‚Awake‘, den sie ebenfalls mit Keyboarder Kevin Moore aufnahmen, gefallen mir von ihnen am besten. ‚Signify‘ von Porcupine Tree ist ein weiteres Album mit dieser Sogwirkung.

SOLO VS. TEAM

Wie ist es, in ein etabliertes Umfeld wie Riverside einzutreten?

Es ist definitiv eine Ehre und ein wahr gewordener Traum. Ich sage aber auch ganz unbescheiden, dass Riverside durch meinen Beitritt zu einer noch besseren Band geworden sind. Ich stieß ja unter nicht alltäglichen Umständen hinzu und musste einen verstorbenen Musiker ersetzen, was nicht einfach war, doch wir haben die Zeit der Trauer um Piotr Grudziński gemeinsam durchgestanden. Die Konzerte im Zuge von ‚Wasteland‘ gaben uns die Möglichkeit, uns würdevoll von ihm zu verabschieden, nun stehen wir wieder auf der Seite des Lebens und schreiten fort. Es dauerte eine Weile, einander kennen und schätzen zu lernen, doch wir wissen jetzt, dass wir hervorragend zusammenpassen. Riverside sind sie selbst geblieben, doch ich verleihe ihnen einen frischen Dreh, wie man auf ‚ID.Entity‘, das ich als neues Kapitel ansehe, hören kann.

Wie hast du dich Piotrs Vermächtnis angenähert?

Ich wollte sein Schaffen in Ehren halten, aber meine eigene Persönlichkeit nicht völlig ausblenden. Von mir wurde erwartet, dass ich vor allem Piotrs charakteristische Parts originalgetreu adaptiere. Genauso zu spielen wie er ist natürlich unmöglich, und ich will es auch gar nicht, es wäre für mich in künstlerischer Hinsicht unattraktiv. Dass die meisten Riffs und unverwechselbaren Melodien der Band von Mariusz stammen, weiß vielleicht nicht jeder, doch das erleichterte meine Einarbeitung ein wenig; Piotr spezialisierte sich auf Solos. Seinen Stil zu übernehmen wäre eine Verleugnung all dessen, was ich im Laufe der Jahre erreicht habe. Stattdessen kommt es darauf an, dass mein Spiel zum Wesen der Gruppe passt.

Du hast dein erstes Soloalbum ‚Zenith‘ mit befreundeten Musikern aufgenommen, die quasi eine Band bildeten. Inwiefern zeigt die Musik eine bisher unbekannte Seite von dir?

Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, etwas zu machen, das mir noch mehr zu eigen sein sollte und wofür ich selbst Verantwortung übernehmen wollte. Obwohl mir mehrere Musiker dabei geholfen haben, habe ich alles alleine komponiert, mir das Konzept ausgedacht, die Fotos fürs Artwork ausgewählt und so weiter. Die Platte zeigt eindeutig mehr von mir als Songwriter, aber die Möglichkeit, mit anderen Leuten zu arbeiten, gehörte auch zu den Dingen, die mich gereizt haben.

‚Zenith‘ klingt stimmungsvoll, emotional und atmosphärisch – nicht wie ein typisches Gitarrenalbum, was übrigens auch für die alternative Version ‚Zenith Acoustic‘ gilt.

Ich würde auch behaupten, die beiden Platten müssten nicht einmal zwingend von ein und derselben Person stammen. Ich fühlte mich dabei eher wie ein „Regisseur“. Das Instrument ist nur ein Werkzeug, um verschiedene Geschichten zu erzählen, und ich wäre nicht in der Lage, alles nur mit Gitarrensolos zu erzählen. Ich muss andere Musiker zur „Diskussion“ einladen; ich gebe ein Thema vor, und wir erzählen alle Geschichten. Das ist für mich interessanter, denn ich möchte nicht nur die ganze Zeit „reden“, sondern auch hören, was die anderen zu sagen haben. Vor allem bei ‚Zenith Acoustic‘ war ich tatsächlich eher der „Moderator“.

Was ist für dich wichtig, wenn du mit einer Rhythmusgruppe arbeitest, also Bass und Schlagzeug?

Ich behandle Bass und Schlagzeug wie jedes andere Element eines Arrangements. Alles sollte sich dem Inhalt des Songs unterordnen und dessen Emotionen unterstreichen. Natürlich schätze ich einen guten Groove, Flow und Swing. Mir gefallen Schlagzeuger, die all das auszeichnet. Was Bassisten angeht, schätze ich solche, die sowohl rhythmisch als auch harmonisch spielen können, wobei meine Vorlieben ziemlich old-school sind: Jack Bruce, John Wetton, Geddy Lee, Chris Squire oder Tony Levin. Darüber hinaus darf es aber auch gerne mal schlicht zugehen, falls eine Komposition es erfordert.

(Bild: Radek Zawadzki)

SPIELSACHEN

Erinnerst du dich noch an deine erste Gitarre?

Ich glaube, es war eine tschechische Diamant, und ich lieh mir das Geld dafür von meinen Eltern. Ich habe sie von jemandem aus zweiter Hand gekauft und kann mich nicht einmal mehr an die Umstände erinnern.

Wie unterscheidet sich dein Equipment auf Tour von dem, was du zu Hause oder im Studio benutzt?

In den letzten zwei Jahren habe ich auf der Bühne nur den Multieffekt-Amp-Modeler Fractal Audio FM3 mit einem FC-6 Foot Controller und Dunlop-Volume-Pedal verwendet, die an eine Fractal-Audio-Matrix-Endstufe und Stereo-Lautsprecher angeschlossen sind. Das gleiche Setup verwende ich zu Hause, bloß ohne die Boxenlautsprecher, und im Studio. Je nach Ausstattung des Studios wähle ich meine Verstärker und Effekte aus. Ich habe ein komplettes Wet/Dry-System von MLC mit zwei Röhrenverstärkern – einer mit EL34-, der andere mit 6L6-Röhren –, das ist für mich ausreichend.

Wie haben sich deine Vorlieben in Sachen Equipment im Laufe der Jahre verändert, also für Gitarren, Verstärker und alles andere, was du benutzt?

Die Vorlieben hängen immer auch ein wenig von der Größe des Geldbeutels ab. Mit der Zeit habe ich versucht, meine Ausstattung weiter zu verbessern, wobei aber das, was ich zu einem gegebenen Zeitpunkt für besser hielt, später vielleicht gar nicht mehr meinen Ansprüchen genügte. Immerhin hatte ich eine Weile acht Gitarren und reduzierte diese Zahl schließlich auf drei, von denen zwei meine Lieblings-Paul-Reed-Smith-Modelle sind; die andere ist eine Stratocaster-Kopie von Tokai, die ich nur im Studio benutze. Das reicht aus, um sowohl hervorragende Konzerte zu spielen als auch professionell aufzunehmen oder – was ja im Grunde das Wichtigste ist – einen Song zu komponieren.

Das Gleiche gilt für Verstärker und Effekte. Seit ich den Fractal habe, verspüre ich kein Bedürfnis mehr, zusätzliches analoges Equipment zu sammeln. Das Gerät ist mehr als genug für mich, um bei Shows, im Studio oder einfach nur zum Spaß zu Hause großartig zu klingen. Ich bin Neuheiten gegenüber generell aufgeschlossen, mag aber auch alte Instrumente. Dessen ungeachtet halte ich meine Jagd nach dem besten Sound überhaupt bis auf weiteres für beendet. Den einen Idealklang gibt es ohnehin nicht; vielmehr muss man je nach Strophe, Refrain, Solo und Stimmung eines Lieds abwägen, was passt.

Siehst du dennoch Unterschiede zwischen Vintage-Equipment und moderner, oft digitaler Technik?

So denkt niemand von uns, es kommt wie gesagt darauf an, womit man sich wohlfühlt und was dem eigenen Gefühl nach zur jeweiligen Situation passt. Ich war schon immer ein Befürworter beider Technologien und verwende alles, was dazu beiträgt, dass eine Komposition „richtig“ klingt, selbst wenn es sich dabei um Digitaltechnik handeln sollte.

Oder kannst du dir Pat Methenys Solospiel ohne den Roland-Synthesizer und King Crimsons ‚Elephant Talk‘ ohne diesen „Elefanten“-Sound von Gitarrist Adrian Belew vorstellen? Er ist übrigens ein großartiges Beispiel dafür, wie man mit modernen Mitteln verblüffende Gitarrenklänge erzeugt. Ich liebe diesen Mann. Wenn du mich fragst, kann man auch gar nicht mehr unterscheiden, ob man einen echten Verstärker oder sein digitales Pendant hört.

IM KOPF DES KOMPONISTEN

Wenn du Songs schreibst, hast du dann auch die inhaltliche Seite im Sinn? Auf deinem Soloalbum ‚Zenith‘ gibt es ja eine Sängerin, und die neue Riverside ‚ID.Entity‘ beruht schließlich auf einem übergreifenden Textkonzept.

Ja, ich mache mir viele Gedanken über den Inhalt. Ich wusste von Anfang an, dass ‚Zenith‘ kein reines Gitarrenalbum werden würde. Das wäre für mich einfach unattraktiv, und ich würde mich nicht wohlfühlen, wenn ich ein Solo ans nächste hängen würde. Ich brauchte also von Anfang an ein Konzept. Mir war klar, dass ich eine Geschichte über etwas erzählen wollte und ein wesentlicher Teil dieser Geschichte gesungener Text sein sollte.

Ich denke, ich werde diesen Weg in Zukunft weiterverfolgen, obwohl ich auch an einem Album arbeite, auf dem man nur eine Gitarre und sonst nichts hört. Es wird aber definitiv etwas psychedelisch und Ambient-lastig sein, bloß dass ich eben alle Sounds nur mithilfe eines einzigen Instruments und verschiedenen Effekten erzeuge. Viel Atmosphäre, Klangkulissen und -farben, weniger Solokram… Zwei Kompositionen sind bereits fertig, und ich bin sehr zufrieden damit. Die Platte wird eine weitere Facette von mir zeigen.

Denkst dabei eher in Melodien, Rhythmen oder Strukturen?

Normalerweise denke ich harmonisch. Ich arrangiere die Akkordfolgen, die mir interessant vorkommen, und habe manchmal auch gleich eine grobe rhythmische Struktur im Kopf. Ich neige dazu, die Hauptmelodien am Ende hinzuzufügen, obwohl es auch schon passiert ist, dass ich ein Stück mit dem Hauptthema begonnen habe, etwa ‚Aside‘ oder ‚Frozen‘ von ‚Zenith‘. Es ist mal so und mal so, denn ich komponiere ziemlich intuitiv.

Welche Ziele hast du in näherer Zukunft abgesehen von diesem Sologitarrenalbum?

Mich als Musiker und Mensch weiterzuentwickeln. Wenn sich diese beiden Wege verflechten, wie es gerade geschieht, ist das wunderbar. Hoffen wir, dass ich kreativ, inspiriert, und gesund bleibe. Was Riverside angeht, so hat sich ihre Arbeitsweise im Lauf der Jahre eingeschleift, und ehrlich gesagt sehe ich hier keine Notwendigkeit für irgendeine Art von Revolution. Es funktioniert einfach.

Die Band brauchte eigentlich keinen weiteren Komponisten neben Mariusz Duda, sondern nur einen Gitarristen, und ich bin überglücklich und dankbar, dass ich diese Rolle ausfüllen kann. Mariusz ist die Haupttriebfeder, und wir versuchen unser Bestes zu geben, um seine Ideen umzusetzen, indem wir einen Teil unseres eigenen Charakters hinzuzufügen, was den Spaß am Spielen in dieser Band noch größer macht. Allein die Tatsache, dass sich meine Spielweise von Piotrs unterscheidet, garantiert Frische, und ich habe das Gefühl, dass es in Zukunft nur noch besser werden kann.

(erschienen in Gitarre & Bass 08/2023)

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