Interview & Transkription

Martin Miller: Vom Rock zum Jazz – und wieder zurück?

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(Bild: Marius Leicht)

Mit seiner großartig besetzten Session-Band erreicht der Leipziger Gitarrist Martin Miller über YouTube ein riesiges Publikum. Mehr als 100 Millionen Aufrufe sprechen Bände. Und in seinen Lehrvideos auf dem Portal JTC Guitar teilt er sein unglaubliches musikalisches und spieltechnisches Wissen mit allen interessierten Gitarristinnen und Gitarristen. Außerdem erscheint im November mit ‚Maze Of My Mind‘ sein neues Album. Grund genug also für ein Interview!

INTERVIEW

Martin, wir beginnen mit der Standardfrage schlechthin. Wie kamst du zur Gitarre und wie verlief dein musikalischer Werdegang?

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Ich hatte schon immer ein latentes Interesse für Gitarre. Immer, wenn etwas im Radio oder im TV lief, was ja im Ost-Fernsehen nicht so häufig passierte, weckte die Gitarre meine Aufmerksamkeit. Wenn da die Rolling Stones oder Pink Floyd zu hören waren, hat mich das interessiert. Mein Vater hatte natürlich eine Akustikgitarre zu Hause, wie in fast jedem deutschen Haushalt, und auf der habe ich herumgeklimpert. An einem Weihnachtsfest kam dann mein Cousin mit einer E-Gitarre und einem kleinen Marathon-Verstärker, der Hall und Distortion an Bord hatte. Das klang für meine Ohren wie im Radio. Und mir hat imponiert, wie man mit so wenig Input, also einem sehr leichten Schlag in die Saiten, so viel Output generieren kann.

Rückblickend muss ich sagen, dass in meiner DNA E-Gitarre und Distortion schon angelegt waren. Das hat mich angefixt, und ich bin niemand, der sich viel Musik mit Akustik-Gitarre anhört, das ist für mich ein ganz anderes Instrument, das mich so wenig interessiert wie etwa das Akkordeon. Ich bin total fokussiert auf die E-Gitarre und die mit ihr verbundene Rock-Ästhetik. Das war mein Ding und ist es bis heute.

Und wie verlief deine weitere Entwicklung? Hattest du Unterricht, oder hat dir jemand etwas beigebracht am Instrument?

Ja, das ist eine Mischung gewesen. Ich hatte Unterricht bei einem Lehrer mit Deep-Purple-Vergangenheit, der dann aber letztlich eher beim Jazz hängengeblieben ist. Das war ein Einfluss. Meine erste Pat-Metheny-DVD war ein weiterer großer Einfluss, die mir mein gleicher Cousin irgendwann mal zu Weihnachten geschenkt hat. Das hat mich auf den Pfad gebracht, und über Pat Metheny habe ich dann Mike Stern entdeckt, der ist ja noch viel rockiger. Das war dann meine Einstiegsdroge. Als mir Jazz auf dem RobertSchumann-Konservatorium in Zwickau beigebracht wurde, war das noch keine echte Liebe, eher nur Unterrichtsmaterial. Auf dieser Schule, die jedem offensteht, hatte ich Einzelunterricht. Ich spielte dort auch in der Bigband und belegte Kurse in Theorie. Das war wie ein Mini-Studium ohne Einstiegshürden.

Und sonst warst du überwiegend Autodidakt?

Nein, ich hatte in meinen jungen Jahren immer Unterricht. Dann habe ich in Dresden an der HfM von 2004 bis 2010 studiert. Das war aber ein reines Jazz-Studium, und ich war mit der ganzen RockGeschichte eigentlich von Anfang an auf mich allein gestellt. Insofern bin ich also beides, Autodidakt in Sachen Rock und ausgebildet im Jazz.

Es gibt noch ein altes Video von dir, wo du mit dem MeisterBassisten Anton Davidyants Charlie Parkers ‚Donna Lee‘ spielst. Da geht es richtig zur Sache, und man hört, dass du das Vokabular des Bebop wirklich intensiv studiert und verinnerlicht hast. Da steckt viel Zeit drin.

Das Video, das du ansprichst, ist zehn Jahre alt, und damals war mir der Jazz noch unglaublich wichtig. Aber je älter ich werde, umso mehr besinne ich mich auf die Anfänge.

Also im Kern verzerrte Stromgitarre.

Ja. Das ist ganz lustig, weil die Entwicklung, die einem immer suggeriert wird, lautet: Man fängt mit Rock an und arbeitet sich dann zum Jazz vor, wenn man reifer wird. Ich fing mit Rock an, dann kam der Jazz, aber jetzt bin ich wieder beim Rock gelandet, da hängt einfach mein Herz dran.

Du bist ja auch sehr aktiv im Tutorial-Bereich, wo es um Themen wie Improvisation und Picking-Techniken geht. Letzteres wird ja eher selten an Unis gelehrt. Wo kommen da deine Kenntnisse her, hast du viel im Internet recherchiert?

Das ist eine Mischung. Zum Thema Picking muss man ja sagen, dass die Plektrum-Gitarre, auch was das Pädagogische angeht, noch in ihren Kinderschuhen steckt. Sie ist historisch betrachtet noch ein sehr junges Instrument. Wenn du Geige oder Oboe lernen willst, gibt es einen universellen Weg, diese Instrumente zu lernen. Auch beim Klavier ist das so, und das Interessante ist, dass das stilübergreifend funktioniert. Egal, ob du jetzt Jazz oder Ragtime spielen willst, es gibt keinen Grund, nicht die klassische Spieltechnik zu benutzen.

Auf der Gitarre ist es anders, weil die Klassikgitarre ohne Plektrum auskommt. Die E-Gitarre hat sich ja über Pioniere wie Jimi Hendrix, Eddie Van Halen und Co. entwickelt, die alle für sich ihre ganz eigene Schule der Spieltechnik definiert haben. Es gibt eigentlich keine Ressourcen, bei denen man nachschauen kann. Man findet nur die Noten/Tabs von einem Lick oder einem Song, aber keiner sagt dir, wie man es spielt. Niemand sagt dir, wie man das Plektrum hält, wie man die Gitarre hält. Es sagt dir keiner, wie man die Schulter und die Arme bewegt. Und im Nachhinein wird das immer schwieriger, weil es so viele verschiedene Stile gibt. Wo fängt man da an?

Wenn man spielen möchte wie Pat Metheny, muss man ganz anders üben, braucht eine ganz andere Haltung als bei Al Di Meola. Ich habe versucht, aus diesem ganzen Meer an Informationen Sachen zu finden, die mir persönlich wichtig waren. Ich stelle damit nicht den Anspruch auf Universalität, weil es die auf der E-Gitarre nicht gibt. Ich vermittle meine Erfahrung aus dem Unterricht. Und ich habe viel mit Troy Grady (www.troygrady.com) geredet, dem „Cracking The Code“-Meister, der wahrscheinlich mehr über Picking-Technik weiß als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Das Improvisationsmaterial zu unterrichten ist leichter, weil es da schon viele Erkenntnisse aus anderen Bereichen gibt. Die Improvisationsmethode, die ich unterrichte, ist der von Jazz-Saxophonisten sehr ähnlich. Da geht es um Patterns, AkkordTöne und Umspielungen. Was ich dem hinzufügen muss, ist, wie man das alles auf der Gitarre visualisiert.

Hast du dir da bestimmte Methoden angeschaut?

Ich habe zum Beispiel viel von einigen Lehrvideos des Jazz-Saxophonisten Jerry Bergonzi gelernt. Na klar, das ist doch ein absolutes „Muss“! Ich liebe auch ‚Patterns for Jazz‘ von Jerry Coker, ein fantastisches Buch. Ich habe bis heute so ein geheimes, mystisches PDF in meiner Dropbox, das damals unter den Jazz-Saxophonisten an der HfM zirkulierte. Da waren die ganzen heißen II-V-I-Licks und Patterns drin. Die benutze ich bis heute, 250 Licks nach C transponiert. Wenn ich mal nichts zu tun habe, ziehe ich mir davon eines drauf.

Hast du die Licks dann auch durch alle zwölf Tonarten gespielt?

Da bin ich etwas zwiegespalten. Ich finde es wichtiger, das Material auf der Gitarre in einer Tonart in allen Lagen zu beherrschen. Die verschiedenen Lagen sind fast wie verschiedene Tonarten. Auf dem Saxophon hast du die Oktavklappe, und auf dem Piano wiederholt sich ein Lick in immer gleichem Fingersatz. Die einzige Möglichkeit, da Varianz reinzubringen, sind eben die verschiedenen Tonarten.

Hier ein kleiner Tipp: Nimm dir einen Raum von fünf Bünden, in dem ja alle chromatischen Töne zu finden sind, du kannst z.B. von Bund 1 bis 5 eine chromatische Tonleiter durch zwei Oktaven + einer großen Terz spielen. Jetzt nimmst du ein II-V-I-Lick und zwingst dich, dieses im Bundraum 1-5, dann 2-6 etc. zu spielen. Dann hast du zwölf (!) völlig unterschiedliche Fingersätze für ein Lick. Das ist schwerer, als ein Lick mit dem gleichen Fingersatz durch die Tonarten zu verschieben. Ich würde dann, was Tonarten angeht, nicht chromatisch verschieben, sondern zum Beispiel im Abstand von einer kleinen Terz, und dann aber in der gleichen Lage bleiben.

Kommen wir zu deinem neuen Album. Da steckt ja in fünf Stücken und 38 Minuten jede Menge Musik. Und es sind verschiedene Einflüsse zu hören. Gleich beim Opener ‚Something New‘ musste ich sofort an Toto denken.

Ja, richtig! (lacht) Die allerersten Töne sind Rush und ‚Tom Sawyer‘, aber danach wird’s Toto.

Auf der ganzen CD hört man sehr komplexe Unisonos. Sofort stellt sich die Frage, wie diese entstanden sind, und überhaupt die ganzen Kompositionen, die zum Teil ja fast zehn Minuten lang sind.

Die Wahrheit ist, dass 99,9 Prozent der Noten auf diesem Album von mir geschrieben sind, und 0,1 Prozent sind dann die künstlerische Freiheit der beteiligten Musiker. (lacht)

Kommen wir zum technischen Teil. Ibanez hat dir ja eine Signature-Gitarre gebaut. Erzähl doch mal, was an der besonders ist.

Das ist im Grunde eine Serien-Ibanez-AZ mit dem kleinen Twist, dass sie einen Mahagoni-Korpus und eine Flame-Maple-Decke hat. Die klingt lustigerweise deutlich heller als der Rest der Serie. Für mich muss eine Gitarre Spank haben. Wenn ich eine Note anschlage, will ich einen merkbaren Transienten, der mir so ein bisschen ins Gesicht schlägt. Die AZ-Serie hat sonst einen Erle-Korpus, und der hat nicht diesen Spank. Aber genau dieser dringt auch durch die Distortion hindurch.

Mit der Ibanez MM1 habe ich alle Soli und alle Sechssaiter-Parts aufgenommen. Mit der MM7 habe ich die Rhythmus-Gitarren in ‚Something New‘ und ‚Left Inside‘ eingespielt. Später habe ich eine Evertune-RGD-Siebensaiter-Gitarre bekommen, mit der ich einige Stellen neu eingespielt habe, die mit der MM7-Gitarre bei härterem Anschlag etwas zu sharp intoniert rüberkommen.

Ibanez MM1 Custom mit Evertune & True-Temperament-Bundierung
Ibanez Custom RGDIR7M mit Evertune

 

Welche Amps waren am Start?

Da bin ich 50/50, also sowohl digital als auch mit echten Amps unterwegs. Letztere erleben bei mir gerade eine Art Renaissance, aber prinzipiell spiele ich alles, was mir unter die Finger kommt, und ich habe auch alle Tools, die es gibt. Der Laney IRT-Studio ist der Amp, der auf der Platte am häufigsten zum Einsatz kam. Ich habe den DI-Out benutzt, der aber über meine eigenen BoxenSimulationen lief. Für besonders heftige Zerr-Sounds habe ich mit dem Neural-DSP-Plug-in darübergetrackt. Bei den wenigen CleanParts kam ein Laney-L5-Studio-Amp zum Einsatz. Ich habe alle Gitarrenparts DI aufgenommen, damit ich sie später noch reampen konnte, und dafür habe ich auch noch gegen Ende einen SynergyAmp mit diversen Modulen eingesetzt.

Das komplette Laney-Rig mit IRT60H & Lionheart L50H (Bild: Martin Miller)

(auf der nächsten Seite geht’s weiter!)

Kommentar zu diesem Artikel

  1. bitte um mehr Material
    vielen Dank und
    herzliche Grüße aus
    good old Vienna

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