Parts Lounge: Overdrive… oder Overkill? – Teil 3

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Von Paul Rivera entwickelte Fender-Amps (Bild: Udo Pipper)

Bevor wir uns, wie in der letzten Folge angekündigt, mit einigen deutschen Herstellern befassen, werfen wir noch einen Blick auf die 80er-Jahre. Schon Ende der 70er veränderten sich Overdrive- und Distortion-Sounds in eine noch extremere Richtung. Einige Musiker verwendeten jetzt noch mehr Gain und kombinierten diese Sounds mit Kompressor, Hall, Delay und Chorus.

Einer der Wegbereiter dieser Entwicklung war zweifellos Steve Lukather, dessen ‚Hold The Line‘-Gitarrensolo vor allem in unseren Breiten eine neue Ära einläutete. Rock’n’Roll wurde modernisiert und erschien in einem neuen Kontext. Es wurde poppig. Bewusst oder unbewusst eiferten unzählige Gitarristen diesen Sounds nach. Gefragt war ein möglichst endloses Sustain, unterstützt durch Delays, was die Gitarre fast wie eine Keyboard-Fläche erscheinen ließ.

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GAIN TO THE MAX!

Ursprung dieser Sounds war die kalifornische Studio-Szene, weshalb diese Klänge bald als „California-Sound“ betitelt wurden. Amp-Tuner wie Alexander Dumble, Randall Smith (Mesa Boogie) und Paul Rivera waren die Masterminds hinter diesen Klängen. Viele verwendeten hierzu kaskadierte Verstärkervorstufen mit reichlich Gain. Es war Mode geworden, kleine Fender-Princeton- oder -Deluxe-Amps in diesem Sinne aufzumotzen und damit die nun deutlich virtuoser agierenden Studio-Musiker auszustatten. Solche Tuning-Experten gab es aber damals nur wenige, daher reagierten die Amp-Hersteller schnell mit Kreationen, die an diese Tunings angelehnt waren. Die Qualität eines Verstärkers wurde fortan nach seinem Gain-Vermögen beurteilt. Es herrschte ein regelrechter Sustain-Wettbewerb.

Fender Tweed Deluxe als Overdrive (Bild: Udo Pipper)

Fender brachte die „Rivera-Serie“ heraus. Die Amps hatten in der Regel einen Clean-Kanal in traditioneller Blackface-Manier und einen zweiten Kanal mit zwei Gain-Stufen, Master und Mid-Boost-Schaltung. Mehr oder weniger wurde das der neue Standard bei Verstärker-Entwicklern. Pedale galten daher schnell als verpönt. Echte Kerle spielten nun mit echter Röhren-Zerre aus ihren meist sündhaft teuren Boutique-Amps. Für saubere Delays und Hall-Programme aus den ersten digitalen Effekt-Prozessoren wurden die meisten dieser Amps mit Einschleifwegen ausgestattet. Jetzt wuchsen die Gitarrenverstärker zu komplexen Systemen heran, denn nun galt es, all diese Features möglichst sauber und brummfrei zu kombinieren.

Schon bald kam jemand auf die Idee, die Vorstufe aus den Gitarrenverstärkern komplett auszulagern und mit externen Endstufen zu kombinieren. Dazwischen konnten dann die Raum-Effekte geschaltet werden. Klingt praktisch, war aber dennoch wegen der Lautstärkeanpassung unterschiedlicher Sounds recht kompliziert. Wollte man die Overdrive- und Distortion-Sounds variieren, musste bald ein dritter und schließlich ein vierter Kanal her, um das zu ermöglichen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass damals manche meiner Kollegen auf diese Art wirklich sehr gute Sounds zustande brachten. Man verbrachte aber unzählige Stunden damit, die neuen Racks zu pflegen und immer wieder zu modifizieren. Zudem musste man stets ein ganzes Röhrenlager mit zum Gig schleppen, denn gute Röhren waren damals Mangelware, und so geschah es, dass man ständig auf der Suche nach extrem rauscharmen High-Gain-Glaskolben war.

Ich selbst mochte es einfacher und spielte einen möglichst clean eingestellten Silverface Fender Dual Showman, vor den ich ein Ibanez UE-300-Multi-Effekt mit Kompressor, Tube Screamer und Chorus geschaltet hatte. Wenn man so will: „The poor man’s rack“. Der Multi-Effekt kostete damals 450 D-Mark und leistete stets gute Dienste.

Multi-Effekt Ibanez UE-300 (Bild: Udo Pipper)

MINI-AMP-OVERDRIVE

Neil Young, Billy Gibbons und Jeff Beck gestalteten ihre Setups dagegen auf ganz andere Weise. Sie benutzten einen leistungsschwachen Fender Amp als Overdrive und schickten den Sound des voll aufgedrehten Amps über eine zusätzlich angebrachte Line-Out-Buchse in große Verstärker, die dann nur noch für die Lautstärke verantwortlich waren. Eddie van Halen tat dies sogar mit seinem 100-Watt-Marshall. Der Vorteil war, dass man so die Endstufenverzerrung als Overdrive nutzen konnte. Beck und Gibbons verwendeten meist als Unterstützung noch ein Fuzz- oder Boost-Pedal vor dem kleinen Amp. Neil Youngs Tweed Deluxe Sound wurde auf diese Weise etwa weltberühmt.

Und Billy Gibbons begeisterte mit diesem Setup bei der legendären Rockpalast-Aufzeichnung in der Essener Gruga-Halle von 1980. Er spielte damals einen durch ein Boost-Pedal zusätzlich übersteuerten Fender Brownface Deluxe Amp, der wiederum die Rio Grande Amps ansteuerte. Das Pedal blieb immer in Betrieb, und Gibbons regelte die gewünschten Sounds allein mit den Volume-Potis seiner Les Paul.

Nicht jeder wollte oder konnte sich aber solche aufwendigen Setups leisten. Daher fand man bald eine ganze Riege neuer Multi-Effekte von Roland (z.B. das GP-8), Ibanez, Korg oder DigiTech, die vor den alten Vox- oder Fender geschaltet wurden und schon ziemlich viele Möglichkeiten boten. In den Achtzigern veränderte sich aber auch die Gitarren-geprägte Musik in verschiedene Lager. Die Highgain-Fraktion endete im Stadium-Rock- oder Heavy-Metal-Lager und pflegte weiterhin die immer aufwendiger gestalteten Rack-Systeme mit mehrkanaligen Vorstufen, während in England für die ruppigen Punkriffs wieder nur ein Tubescreamer oder Big Muff ausreichen sollten. Hier hörte man höchtens mal einen Phaser oder Flanger auf der ansonsten eher Riff-orientieren Rock’n’Roll-Gitarre.

ZEITGEIST

Tom Scholz entwickelte beinahe zeitgleich mit dem Sony Walkman eine ganz ähnliche Verstärker-Einheit für Gitarristen, die er ‚Rockman‘ nannte. Ausgestattet mit Kompression, Chorus und Distortion eroberte der Gitarren-Walkman schnell die gesamte Gitarrenwelt. Er eignete sich zum Üben mit Kopfhörer, als eigenständiger Vollverstärker, der direkt in die P-A. gespeist wurde oder als Studio-Amp für wahrlich stereotype Sounds, die schon damals ziemlich kühl und charakterlos daherkamen. Dennoch verwendeten sogar Billy Gibbons und Jeff Beck diese Teile für ganze Studio-Alben. „Schicke“ Sounds in einer Zeit der Bundfaltenhosen und Popper-Haartollen.

Tom Scholz Rockman (Bild: Udo Pipper)

Gott sei Dank war dies eine kurze Mode. Die digitalen Keyboards hielten Einzug in die Pop- und Rock-Musik und bildeten fortan solch tiefe und breite Flächen, dass man die verzerrte Gitarre schon fast dem Untergang geweiht sah. Wie bei Dieter Bohlens Modern Talking war die weiße Stratocaster nur noch Staffage und die E-Gitarre verkümmerte zu einem dünnen Chorus-Geklimper meist weit im Hintergrund neben all dem üppigen Keyboard-Gewitter. Ausnahmen waren nur noch Solosaiten-Künstler wie etwa Stevie Vai, Eric Johnson oder David Gilmour. Blues-Rocker wie Stevie Ray Vaughan agierten derzeit noch im Hintergrund und durften hier und da als Gastmusiker ein Solo beisteuern (wie Vaughans Beitrag auf Bowies ‚China Girl‘) und bekamen, wenn auch erst im Mix, dann doch den üblichen Stereo-Chorus verpasst.

Dann erschienen jedoch Slash von Guns N’ Roses und The Edge von U2 auf der Bildfläche und ließen das schon tot geglaubte Genre der E-Gitarre wieder aufleben. Slash „verursachte“ praktisch die Wiedergeburt der Gibson Les Paul und U2 nahmen B.B. King ins Vorprogramm. Beide bedienten übrigens Sounds, die den guten alten Boss DS-1 wieder in beinahe jedem Pedalboard erscheinen ließ. Von nun an wurde die Welt der Overdrive-Pedale wieder wesentlich bunter und vielseitiger.

In den USA erschien der Klon Centaur, der schon in den vorherigen Folgen erwähnt wurde. Eine Mischung aus Booster und Overdrive, der praktisch als der perfekte Veredler von Crunch-Sounds bis heute Geschichte schreibt. Der zunächst noch kleine Boutique-Hersteller Fulltone widmete sich mit großem Erfolg einer ganzen Riege von Overdrive-, Fuzz- und Boost-Pedalen, die bald weltweit vertrieben wurden. Auch der Gitarren-Preamp wanderte aufs Pedalboard. Bei Hughes & Kettner entwickelte man noch unter Einfluss des BluGuitar-Amp-Erfinders Thomas Blug den Tubeman 1, der unterstützt von einer ECC83 eine komplette „Marshall-Vorstufe“ im Miniformat lieferte. Ich selbst bin bis heute glühender Anhänger des Tubeman 1, der über jeden kleinen Amp fette Overdrive-Sounds ermöglicht.

Hughes & Kettner Tubeman 1 (Bild: Udo Pipper)

Bei Chandler tat dies ebenso der Tubedriver: Ein Pedal, das nicht nur David Gilmour begeisterte und typische Röhrensounds erzeugt. In den Neunzigern fand man daher alle möglichen Systeme auf den Profi-Bühnen. Es herrschte sozusagen ausgeglichene Koexistenz zwischen Rack-Systemen, kompakten Pedalboards und puristischem „Amp-Zerre-Rock’n’Roll.“ Jeff Beck spielte etwa auf seiner 1998er Deutschland-Tour ausschließlich einen zweikanaligen Marshall DSL 50. Ab den 2000er-Jahren wechselte jedoch auch er wieder zu einem mittlerweile gut bestückten Pedalboard. Dieser Trend hält bis heute an, vermutlich auch, weil es auf diesem Markt unzählige Angebote gibt und jeder auf der Suche nach DEM Sound zu sein scheint.

Selbst Steve Lukather und Michael Landau haben ihre Systeme deutlich entschlackt, auch weil es so teuer geworden ist, große Gitarrenanlagen um die Welt zu fliegen. Die Qualität der Overdrive-Pedale offenbart sich nicht nur in ihrer Vielseitigkeit, sondern auch dank immer gewiefteren Ingenieuren, die mit solchen Produkten nun auch richtig Geld verdienen können.

Nun aber in der nächsten Ausgabe zu einer abschließenden Auswahl an Pedalen, die das Zeug zu Kult-Klassikern haben.

(erschienen in Gitarre & Bass 08/2022)

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