Ein Leben für die Röhre …

Zum Tode von Thomas Reußenzehn

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(Bild: Reußenzehn)

Nur etwa zwei Wochen nach der Todesnachricht von Howard Alexander Dumble erreichte uns die traurige Information, dass Deutschlands wohl bekanntester Verstärker-Experte Thomas Reußenzehn am 3. Februar nach langer Krankheit verstorben ist. Diese Nachricht traf mich umso heftiger, weil ich Thomas seit etwa 40 Jahren gut kannte. Er verstarb mit nur 66 Jahren. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und seinen Freunden.

Er war eine der wenigen Persönlichkeiten in diesem Geschäft, die nicht zuletzt auch die Inhalte unseres Magazins über Jahre prägte. Es ist schon beinahe etwas unheimlich, dass Dumble und Reußenzehn in Sachen Röhrentechnik im Grunde auf dem selben Planeten beheimatet schienen. Beide waren absolut überzeugte Hüter der Glaskolben-Technik, die ohne diese beiden Spezialisten ein Stück Farbe verliert. Vielleicht hatte Dumble aufgrund seiner amerikanischen Heimat die berühmteren Kunden auf der Liste, in punkto Erfindungsreichtum war Thomas Reußenzehn sicherlich deutlich kreativer.

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Als ich Thomas um 1980 kennenlernte, staunte ich über sein breites technisches Vermögen und über seinen unerschütterlichen Glauben an die Röhrentechnik. Damals wurde der Röhre bereits keine große Zukunft mehr zugetraut. Längst hatte die Transistortechnik das Ruder übernommen. In den Musikgeschäften standen Verstärker von Gibson LAB, Peavey, Yamaha oder Session – alle mit Transistorbestückung. Röhren gab es nur noch in so genannten Boutique-Produkten wie Mesa Boogie, Jim Kelley oder eben Dumble.

Aus reiner Neugier besuchte ich Thomas Reußenzehn in seinem kleinen Laden in der Offenbacher Mathildenstrasse. Im Hinterzimmer befand sich eine ebenso kleine Werkstatt, in der er seine ersten Produkte fertigte. Wie ein Prediger überschüttete er mich mit seinen Erkenntnissen und Ideen. Und wie immer mit einer etwas zu lauten Stimme in breitem südhessischen Dialekt. Schon nach kurzer Ansprache hatte er mich überzeugt. Fender, Marshall und Vox hießen von nun an weiterhin die Zauberformeln für den perfekten Sound.

Ich überließ ihm meine rote Gibson ES-335 zur Neubundierung und fuhr sichtlich beeindruckt zurück nach Frankfurt. Nur zwei Tage später rief er mich an und teilte mir mit, dass ich meine Gitarre wieder abholen könne. „Wow“, dachte ich, „das ging aber schnell“. So war er. Ein extrem fleißiger Ad-hoc-Arbeiter, der meines Wissens nie etwas auf die lange Bank schob. Er erzählte nicht nur mit seiner typischen Überzeugungskraft von künftigen Projekten, sondern setzte sie auch in kürzester Zeit um. Er war ein Macher durch und durch.

Es gab die Legende, dass er sogar seine Hochzeitsfeier unterbrach, um mal kurz einen Fender-Bass zu verkaufen. Ladenöffnungszeiten gab es bei ihm nur auf dem Papier. Ich weiß bis heute nicht genau, ob die Geschichte stimmt, aber zuzutrauen wäre sie ihm.

(Bild: Udo Pipper)

Offenbach hieß zunächst sein Parkett. Hier blühte der Rock’n’Roll immer noch wie in alten Zeiten. Und hier fühlte sich „Reu“, wie er allseits genannt wurde, zuhause. Jazz oder „Experimental-Musik“ bestimmten dagegen die Szene im benachbarten Frankfurt. Und es sollte so kommen, dass Reu mit seinen Produkten schließlich die gesamte Rhein-Main-Metropole eroberte.

Allen voran mit den Rodgau Monotones, deren Backline damals komplett mit Reu-Produkten bestückt war, und die sich mit ihrem fetten Blues-Rock-Sound in die Herzen von schließlich ganz Deutschland spielten. Ich erlebte die Band zum ersten Mal in Frankfurts Nummer-Eins-Ballroom Batschkapp, wo diese Jungs einfach ein Brett hinlegten. Gitarrist Raimund Salg und Bassist Joky Becker spielten über von Reußenzehn getunete (und optisch verschönerte) Fender-Topteile und Ali Neander über einen Marshall JMP 100 mit Reu-o-Grande-Tuning. Und damit hatte Reu die ideale Präsentations-Truppe im Gepäck. Nie wieder habe ich Saitenkünstler gehört, die die Amps von Reußenzehn besser bedient hätten.

Die Reu-o-Grande-Amps und die Monotones wurden fortan zu einer unschlagbaren Einheit. Damals spielte die Band noch vorwiegend Cover-Versionen, darunter zahlreiche ZZ-Top-Nummern. Und viele Zuhörer waren sich einig, dass Salg, Becker und Neander das mindestens genauso gut hinbekamen wie ihre Vorbilder. Natürlich waren die Bandmitglieder und Reu bis heute eng befreundet. Sie bildeten das Zentrum der Offenbacher Szene.

1982 gab Reu seinen Laden in der Mathildenstrasse auf, um sich wieder voll und ganz seinen Entwicklungen widmen zu können. Monotones-Bassist Joky Becker übernahm das Geschäft, und kurze Zeit später wurde ich im Nebenjob dort als Gehilfe angestellt. Reu kam beinahe täglich vorbei, wobei ich meist ausladende Gespräche mit ihm hatte, die oft bis nach Ladenschluss vor dem Auto fortgesetzt wurden. Er nahm mich dabei immer ein bisschen hoch, bezeichnete mich als Greenhorn und so weiter.

Nun saß ich selbst in seiner ehemaligen Werkstatt, und offenbar hatte er sichtlich Sorge, dass ich nicht in seine „großen Schuhe“ passte. Das tat ich freilich noch in keinster Weise. Ich konnte gerade mal einen Pickup anlöten oder neue Saiten aufziehen. Von Elektroniken hatte ich damals keine Ahnung. Es ergab sich aber, dass ich ihn dann auch ein paar Mal zuhause besuchte, wo er mir Musik über seine selbstgebaute Röhren-HiFi-Anlage vorspielte und sich über den Sound freute wie ein Kind.

Natürlich wollte und musste Reußenzehn mit seinem Schaffen auch Geld verdienen. Aber in erster Linie tat er das alles aus tiefster Überzeugung. Und das ist es, was ihn so wertvoll machte. Immer ein bisschen mehr geben, immer ein bisschen perfekter werden, immer etwas Neues unterbringen und immer noch einen Schritt weiter gehen. Natürlich hatte er seine Lieblingsprodukte wie Fender oder Marshall, die stets Grundlage seiner Entwicklungen wurden, aber die Vorbilder schienen ihm nicht genug. Er wollte seine eigenen Ideen unterbringen.

Hifi-Verstärker-Bollwerk: der imposante V8 mit 2x 100 Watt
Röhrenhall und EL34-Amps
Klassiker: Reußenzehns Slave-Endstufen – hier die 200-Watt-Variante

 

Es dauerte nicht lange bis er im Grunde nur noch komplette Eigenentwicklungen fertigte. Und diese Ideen waren immer großartig. Seine berühmte Bass-Vorstufe im 19-Zoll-Format gepaart mit den dazugehörigen Endstufen, eine Midi-kompatible Gitarren-Vorstufe mit zwei echten Kanälen, die Reu-o-Grande Amps bald im eigenen Design mit verkürzten Signalwegen, die CD-Pyramide mit Röhren für einen wärmeren CD-Sound, den Daniel-D-Röhrenbooster, den Single-Ended EL34-Mini-Amp und schließlich eine eigene HiFi-Linie komplett mit Röhren bestückt.

Er baute Leslies, Hallgeräte, Kopfhörer und Lautsprecher. Nichts schien vor ihm sicher. Irgendwann hatte er über 100 eigene Produkte im Programm. Und alles baute er nach wie vor selbst. Er vermied, wo es ging, den Zukauf von fernöstlichen Bauteilen und engagierte sich schließlich auch in der Tinnitus-Forschung durch die Entwicklung eines eigens dafür geeigneten Kopfhörers. Ich könnte noch endlos von seinen Taten berichten …

Mitte der Neunziger kaufte ich bei ihm einen HiFi-Röhren-Vollverstärker, der ein sagenhaftes Preis-Leistungs-Verhältnis hatte. Reu-typisch war das Gerät in jeder Hinsicht „heavy duty“, absolut rauscharm und klanglich auf dem Niveau von wesentlich teureren Verstärkern. „Eigen“ war nur sein Design, denn auch das hat er stets selbst beigesteuert. Da gab es schlichte schwarze Aufkleber, manchmal Verstärker im Leopardenfell und oft eine eigentümliche Regler-Anordnung. All das folgte aber nur seinem einmalig eigenen Approach.

Reu war in dieser Hinsicht auch ein eigensinniger Kopf. Seine Produkte waren mehr Sein als Schein. Vor circa zehn Jahren habe ich ihn zum letzten Mal persönlich besucht. Ich traf ihn für ein Interview zur neu eröffneten Röhrenmanufaktur in Frankfurt Oberrad. Dort hatte er sich nach einem zehnjährigen Exkurs in die Rhön wieder niedergelassen. Dieses Wiedersehen war die reine Freude. Wie immer schon herrschte in seinem Haus und seiner Werkstatt Ordnung und Gemütlichkeit, und ich fühlte mich willkommen wie früher bei einem Besuch bei meinen Eltern. Fröhlich zeigte mir Reu seine ganze Welt der Röhrenprodukte. Alles wunderbar ausgestellt und anspielbereit.

Er erzählte mir, dass er morgens schon um halb sieben in der Werkstatt sitzt: „Anders ist das nicht zu schaffen!“ Auch sein enormer Fleiß gehörte zum Erfolgsrezept. Wir spielten zahlreiche Amps an (wobei Reu wie schon damals mit seiner Telecaster immer ein Rolling-Stones-Riff hindonnerte), hörten Musik über seine HiFi-Anlagen, plauderten über das Musikgeschehen und natürlich über die Zukunft seiner Röhrenmanufaktur.

Die Rodgau Monotones und der Gitarrist Rolf Bussalb gehörten immer noch zu seinen wichtigsten Endorsern. Daran hatte sich nie etwas geändert. Es fielen auch Glaubenssätze, die mich in meiner Arbeit stets geprägt haben: „Immer in die gleiche Kerbe hauen,“ oder „Rauschabstand ist auch Klang!“ An diese Reu-Vorsätze denke ich beinahe jeden Tag, auch wenn ich ihn am Ende längst nicht so gut kannte wie seine langjährigen Rhein-Main-Freunde. Denn auch an die muss ich heute denken. Die Frankfurt-Offenbacher-Rodgau- Musikszene ist um ein wahres Unikum ärmer geworden, das wohl niemand ersetzen kann.

Die Röhrentechnik lebt vermutlich auch nur deshalb schon so lange, weil es Erfinder und Liebhaber wie ihn gab. Immerhin hat er sich – und das ist wahrlich ein schwacher Trost – mit seinen zahlreichen Produkten unsterblich gemacht.

Lieber Reu, wir werden Dich nie vergessen! Leb wohl …

(erschienen in Gitarre & Bass 03/2022)

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Es beschäftigt mich die Frage ob so sein Lebenswerk abrupt endet,
    oder ob die Familie bestrebt ist die Firma in seinem Sinne weiterzuführen.
    Bisher ist auf der Seite der Firma Reußenzehn nur vermerkt, dass die Firma “vorübergehend” geschlossen ist.

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    1. Die Mitteilung “Die Firma Reußenzehn ist aus gesundheitlichen Gründen bis auf Weiteres geschlossen.” konnte man schon vor Reus Tod auf der Webseite lesen. Offenbar war er schon seit längerer Zeit krank und nicht mehr in der Lage, seine Firma mit allem Drumherum zu führen.

      Unter “Kontakt” steht jetzt “Die Firma ist geschlossen.”

      https://www.reussenzehn.de/de/hifi.php – Hier findet man ein Statement seiner Familie:

      “Unser Reu hat seine letzte Reise angetreten.
      Thomas Reußenzehn* 01.04.1955 † 03.02.2022
      Christina, Florian & Zita mit der ganzen Familie”

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  2. Meine Güte … da geht noch ein “ganz Großer” … traurig!
    Irgendwie geht mit solchen Menschen auch ein Stück Wissen dahin … Hoffentlich werden sein tollen kleinen Amp-Gitterschachteln weiter gebaut …
    RIP

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  3. Vielen Dank Udo für diesen sehr berührenden Artikel mit den schönen Anekdoten, von denen viele ich noch nicht kannte. Für mich auch interessant, da ich selbst im Rodgau lebe, einen uralten Guitar Slave- Amp habe und ich auch schon bei Thomas zum Röhrenwechsel war. Deine Beschreibung zu seiner Persönlichkeit und seinem Charakter trifft es genau auf den Punkt.
    Das ist sehr bewegend und meine Anteilnahme gilt der Familie

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  4. Habe ihn erstmalig in den frühen Siebzigern wahrgenommen als er aus einer Hinterstube von Bütty’s (Manfred Büttner) Musikladen hervor kam. Später in seinem eigenen Laden hatte ich ein FenderRhodes gekauft, anbezahlt und dann die Restzahlung hinausgezögert. Er kam des Nachts und hat geklingelt. Letzten Endes war alles bezahlt. Allerdings, etwa 20 Jahre später, war ich in Bieber wegen Wechsel Mechaniken meiner Ak.Gitarre, wollte ich ein Rig für eine Strat und er war sehr zurückhaltend, sagte kostet ein Haufen Geld.

    Als Techniker 100%, als Mensch für mich persönlich etwas zwiespältig. Trotzdem hat mich die Nachricht die ich erst jetzt lese, traurig gemacht.

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