Im Interview

Oscar Jerome: Eine Lanze für die Vielfalt

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(Bild: Denisha Anderson)

Jazz ist eine engstirnige, puristische, elitäre Angelegenheit. Meint zumindest UK-Shootingstar Oscar Jerome und zelebriert auf seinem Solo-Debüt ‚Breathe Deep‘ eine abenteuerliche, weil genreüberschreitende Fusion aus allen erdenklichen Stilen. Die würzt der Gitarrist mit sozio-politischen Texten und interessanten Sounds.

Man kennt ihn als Gitarrist des Londoner Afrobeat-Sextetts Kokoroko, mit dem er sich 2019 auch in Deutschland eine breite Hörerschaft und viel Kritikerlob erspielte. Doch Oscar Jerome, ein Endzwanziger aus Norwich, der seit seiner Studienzeit am Trinity Laban Konservatorium in der britischen Hauptstadt lebt, hat noch ein zweites Standbein: Sein Solo-Projekt, mit dem er ebenfalls schon ein paar Jahre aktiv ist und Lianne La Havas sowie Kamasi Washington auf deren Tourneen begleitet und ein Live-Album veröffentlicht hat. Jetzt, mit vom Coronavirus bedingter Verschiebung von einigen Monaten, erscheint sein Studio-Debüt ‚Breathe Deep‘. Eine Kollektion von elf Stücken, die den Musiker/Songwriter ebenso vielseitig wie ehrgeizig zeigen.

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Wie lange hast du an deinem Debüt gearbeitet?

Einige Tracks reichen wirklich lange zurück. Aber ich habe auch mehrere Anläufe beim Aufnehmen meiner Songs unternommen, und es hat sich nie richtig angefühlt. In dem Sinne, dass ich ihnen dabei auch nur halbwegs gerecht geworden wäre. Insofern ist das Album schon das Ergebnis von einigen Jahren Arbeit.

Musikalisch mixt du Jazz, Soul, HipHop, Folk und Rock. Der Sound des modernen, urbanen London?

Es ist einfach das, womit ich großgeworden bin. Und etwas, über das ich nicht nachdenke, sondern das sich einfach ergibt. Ich meine, als ich 14 war, habe ich bereits eine Menge Solo-Shows gespielt. Und zwar hauptsächlich mit akustischer Gitarre und ziemlich folkig. Gleichzeitig stand ich immer auf Soul und Rock. Vor allem Rage Against The Machine und Jimi Hendrix hatten es mir als Teenager angetan. Anschließend war ich dann geradezu besessen von Jazz. Zwischen 16 und Mitte 20 habe ich vorwiegend Jazz gespielt. Das tue ich immer noch, und ich liebe das Genre, aber gleichzeitig habe ich mich eben weiterentwickelt und auch weiter geöffnet. Bis zu dem Grad, an dem ich jetzt bin und an dem es quasi eine Mischung aus allem ist. Aber was den Folk-Einfluss betrifft: Ich liebe John Martin. Er ist einer meiner absoluten Lieblingskünstler. Wahrscheinlich schimmert er da öfter durch.

Inwieweit handelt es sich bei Oscar Jerome um einen politischen Künstler?

Ich sehe mich selbst nicht als ausgesprochen politisch. Ich greife eher Sachen auf, die ich im Kopf habe, die mich beschäftigen und mit denen ich mich allein deshalb in meiner Musik auseinandersetze, um sie besser zu verstehen oder eine klare Meinung zu entwickeln. Sprich: Die musikalische Auseinandersetzung hilft in erster Linie mir selbst. Denn seien wir ehrlich: Es gibt viele Dinge in der Welt oder in meiner direkten Umgebung, die mich frustrieren und wütend machen.

Und ich schätze, Musik ist eine gute Methode, um diese Gedanken auszudrücken und damit auch anderen Leuten Denkanstöße zu geben. Denn leider hat vieles, was heute veröffentlicht wird, nicht sonderlich viel Bedeutung und Tiefe. Es folgt eher einer mathematischen Formel, von der man weiß, dass sie funktioniert und sich entsprechend verkauft. Was mir persönlich zu wenig wäre. Ich will mit meiner Musik lieber etwas liefern, das nicht gängig ist, sondern frische, neue Ansätze verfolgt – und meinen Mitmenschen Denkanstöße gibt, auf die sie sonst nicht kommen würden.

Am Radikalsten mutet da ‚Your Saint‘ an, das sich mit der mangelnden Empathie für Flüchtlinge in den westlichen Industrieländern befasst. Eine regelrechte Ohrfeige an die Politik und alle, die wegsehen und das ignorieren …

Ja, und die Idee dafür kam mir in Paris, wo ich eine Menge dieser syrischen Flüchtlinge gesehen habe, von denen man hier in England kaum etwas mitbekommt. Einfach, weil sie im Fernsehen und in den Medien keine Beachtung finden. Und ich war geschockt, als ich gesehen habe, wie diese Menschen, die ja alle in irgendeiner Form qualifiziert für einen Job sind und ein gewisses Maß an Bildung haben, behandelt werden. Statt sie in die Gesellschaft zu integrieren, in der sie sich – gerade als Christen – problemlos einfügen dürften, werden sie als Belastung empfunden. Und das in Ländern, die sich christlich schimpfen. Ich bin zwar nicht religiös, aber da ist wirklich viel Scheinheiligkeit im Spiel. Ich meine, was ist aus dem guten, alten Leitsatz „hilf deinen Nachbarn“ geworden?

Oscar Jeromes heimisches Musikzimmer (Bild: Oscar Jerome)

Gleichzeit weist dein Album ein witziges Artwork mit allerlei Grimassen auf – wie passt das zusammen?

Weil meine Musik natürlich auch etwas hat, das nicht ganz so ernst ist. Und ich will hier nicht als wer weiß wie engagiert und radikal rüberkommen. Ich bin schließlich kein super-ernster Mensch und versuche, mich selbst auch nicht zu ernst zu nehmen. Geschweige denn von mir zu behaupten, dass ich wirklich alles wüsste. Das tue ich nicht. In gewissen Dingen bin ich genauso ignorant wie viele Menschen, und ich kommentiere in erster Linie, was ich sehe und was mich stört. Ich will aber kein Prophet oder Moralapostel sein und anderen sagen, was sie zu denken und zu fühlen haben. Ich bringe lediglich meine Gedanken zum Ausdruck und hoffe, dass ich damit helfen kann – oder mit meiner Musik anderen Vergnügen bereite. Das ist das Wichtigste. Und ich bin gerne ein bisschen albern.

Darf man fragen, wie Jazz-Puristen auf dich reagieren? Bist du denen zu viel – sehen sie dich als eine Art Schock fürs System?

Schwer zu sagen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Leute, die eine klassische, fundierte Jazz-Ausbildung haben, ein bisschen verstimmt auf mich reagieren. Genau wie Leute, die man gemeinhin als Jazz-Künstler tituliert. Aber das ist auch eher etwas, das von den Medien ausgeht. Also nichts, was von Musikern kommt. Wir – also jeder einzelne von uns – machen einfach die Musik, die uns gefällt. Und die vermischen wir mit anderen Dingen, auf die wir stehen.

Das ist zumindest der Ansatz von meinen Freunden und mir. Da tut niemand so, als wäre er ein Jazz-Meister oder etwas in der Art. Außerdem kenne ich eine Menge großartiger Jazz-Musiker, und soviel ich weiß, freuen die sich alle für mich. Aber seien wir ehrlich: Mit Jazz ist es so eine Sache. Als Kultur, als Genre, sollte er eigentlich sehr offen sein, eben eine soziale Art von Musik. Aber gerade in Europa und den USA ist er zu etwas ziemlich Elitärem, fast schon Snobistischem geworden. Zu einem sehr Macho-, Ego-mäßigem Ding. Was eine Schande ist, denn ich liebe Jazz. Und es wäre nett, wenn er ein bisschen offener und flexibler sein könnte.

Was Gitarren betrifft: Was spielst du auf dem Album?

Verschiedenes. Zum Beispiel habe ich mir eine ES-330 von Gibson geborgt, die man auf dem Song ‚Your Saint‘ hört. Bei ‚The Joy Is You‘ und einigen anderen, die einen eher hölzernen und vollen Ton haben, ist es dagegen eine Gibson Wes Montgomery. Eine richtig fette Archtop und eine wunderbare Gitarre. Außerdem spiele ich noch dieses alte Teil, das meinem Vater gehört hat, eine Univox Hi-Flyer. Eine japanische Gitarre, die er in den 70ern auf einem Flohmarkt gefunden hat. Ich habe sie auf unserem Dachboden wiederentdeckt. Der Hals war ein bisschen verzogen und sie war insgesamt ziemlich versifft. Aber ich habe sie reinigen und justieren lassen. Seitdem ist es eine wunderbare Gitarre – und mein eigentliches Hauptinstrument. Ich liebe sie.

Oscar Jerome mit der alten Univox Hi-Flyer seines Vaters (Bild: Oscar Jerome)

Und ansonsten verwendest du ausschließlich Leihgaben von Gibson?

(lacht) Nein, nein, so schlimm ist es nicht. Aber ich selbst habe gar nicht so viele Gitarren. Eine wird gerade repariert, aber der Laden ist halt seit Ausbruch der Corona-Pandemie geschlossen. Es handelt sich dabei um eine Eccleshall, vom britischen Gitarrenbauer Chris Eccleshall. Ich habe sie aus zweiter Hand erstanden, und es ist eine Archtop, die auf einer 175er basiert. Sie wurde im selben Jahr gebaut, in dem ich geboren wurde. Insofern passt das hervorragend. (kichert)

Du setzt eine Menge Effekte ein, was für Jazz-Gitarristen eher ungewöhnlich ist. Wie kommt’s?

Da muss ich widersprechen, denn ich denke, es gibt etliche Jazz-Gitarristen, die eine Menge Effekte verwenden. Zum Beispiel Bill Frisell, John Scofield, Kurt Rosenwinkel. Und auch ich setze eine Menge davon ein. Lustigerweise habe ich mich lange dagegen gewehrt. Ich war sogar regelrecht Anti-Effekt-mäßig drauf. Nach dem Motto: „Ich kann Musik mit meinen Fingern machen. Ich brauche diesen ganzen Kram nicht.“

Wann und warum hat sich das geändert?

Ich schätze, ich wollte einfach in der Lage sein, viele unterschiedliche Sounds zu kreieren. Also viel mehr als mit meinen Fingern möglich gewesen wäre. Und ich habe mich auch mehr auf die Produktion von Musik und auf elektronische Sounds konzentriert. Einfach, weil ich erkannt habe, dass man damit viele spannende Sachen mit der Gitarre hinbekommt, die gar nicht nach ihr klingen. Die einfach nur tolle Klanglandschaften sein können. Und das auszuloten und immer neue Sachen zu probieren, ist ein Riesenspaß. Ganz abgesehen davon, macht mich das unglaublich variabel. Ich bin in der Lage, mit einem Trio oder einem Quartett zu spielen und meinen Sound individuell anzupassen. Einfach durch meine Effekte. Das ist ein tolles Gefühl, das ziemlich selbstbewusst macht.

Nur auf Overdrive scheinst du weitestgehend zu verzichten – warum?

Verzerrung verwende ich tatsächlich nur ein bisschen in den Soli. Und ich würde sagen: Das kommt wohl daher, dass ich doch ziemlich viel Jazz gespielt habe und dass ich da gerne einen sauberen Ton habe. Allerdings werde ich in Sachen Gear immer nerdiger. Aus dem einfachen Grund, weil es mir Spaß macht. Früher fiel es mir echt schwer, Verständnis dafür aufzubringen, aber jetzt experimentiere ich gerne mit kleinen Pedalen, mit denen sich verrückte Sounds erzeugen lassen.

Wie kommt es, dass du die Saiten bei einigen Stücken so hart anschlägst?

Ich würde sagen, das ist einfach eine Angewohnheit von mir. Und ich stand schon immer auf ein perkussives Spiel. Was wahrscheinlich daran liegt, dass eine Menge meiner Lieblingsgitarristen ebenfalls sehr hart anschlagen – wie George Benson. Aber das Perkussive kommt definitiv daher, dass ich auf Drums stehe. Deshalb basieren die meisten meiner Songideen auch auf einem Beat. Der kommt immer zuerst und ich habe auch selbst versucht, Percussions zu lernen und Schlagzeug zu spielen. Insofern versuche ich immer das perkussive, rhythmische Element immer in meinem Spiel rüberzubringen.

(erschienen in Gitarre & Bass 09/2020)

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