Zwischen seinem zweiten Soloalbum ‚Degradation Trip’ (2002) und dem dritten ‚Brighten’ (2021) lagen fast zwei Jahrzehnte – doch diesmal ging alles plötzlich schnell. Jerry Cantrell veröffentlicht mit ‚I Want Blood’ sein viertes Soloalbum – energiegeladen, facettenreich und prominent besetzt. Im Interview spricht der Alice-In-Chains-Gitarrist über Arbeitsprozesse, musikalische Wegbegleiter und warum es wichtig ist, den richtigen Moment zu nutzen, wenn der kreative Funke überspringt.
Unterstützt von langjährigen Weggefährten wie Duff McKagan, Robert Trujillo und Mike Bordin, liefert der Alice-In-Chains-Gitarrist ein kompromissloses Album ab, das sich stilistisch klar absetzt und dennoch vertraut klingt.
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Wir sprachen mit ihm über den Reiz des Neubeginns, prägende Einflüsse und kreative Disziplin.
Jerry, nahezu 20 Jahre liegen zwischen deinem zweiten Soloalbum ‚Degradation Trip’ (2002) und dem dritten ‚Brighten’ (2021), aber nur drei weitere bis zu deiner aktuellen Scheibe ‚I Want Blood’ (2024). Weshalb ging es diesmal so viel schneller?
In meiner gesamten Karriere habe ich bislang nur vier Soloplatten aufgenommen, und zwar in zwei Zeitfenstern. Nach der Veröffentlichung von ‚Brighten’ hatte ich das Gefühl, dass es eine gute Idee sein könnte, ein weiteres Soloalbum aufzunehmen und auch damit zu touren.
Die weltweiten Shows zu ‚Brighten’ mit unter anderem Tyler Bates und Greg Puciato hatten enorm viel Spaß gemacht, die Platte lief richtig gut, und ich kam zurück nach Hause mit diesem ‚Brighten’-Vibe und dem Gefühl, dass ich schnell eine Scheibe nachlegen sollte. Also habe ich sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt.
Gibt es auf ‚I Want Blood’ Überbleibsel oder Songfragmente von ‚Brighten’? Oder handelt es sich um komplett neues Material?
Es gab zwar noch einige Riffs und Ideen, die ich gesammelt hatte, aber meistens beginne ich mit jedem neuen Album bei null, schlage also jedes Mal ein leeres Blatt auf. Insofern sind ‚Brighten’ und ‚I Want Blood’ zwei komplett unterschiedliche Platten, was man auch spürt, wenn man sich beide Scheiben anhört.
Die Songs unterscheiden sich stark, im Grunde genommen ist es völlig andere Musik, jedes Album steht für sich selbst. Ich weiß noch nicht einmal, ob die beiden Alben überhaupt zusammenpassen.
Könntest du erklären, was du von ‚Brighten’ für die Arbeiten an ‚I Want Blood’ gelernt hast?
Man lernt ständig dazu. Wie du anfangs richtig erwähnt hast, hatte ich eine solche Erfahrung seit fast 20 Jahren nicht mehr gemacht. Natürlich bekam ich durch die Arbeiten an ‚Brighten’ und der anschließenden Tour eine Menge neuer Erfahrungen. Zudem sind ein paar der Musiker dabeigeblieben, gleichzeitig ist aber auch viel frisches Blut hinzugekommen. Es ist immer interessant, mit einem Kollektiv von talentierten Musikern zu arbeiten und daraus eine Platte entstehen zu lassen, um später dann mit einer anderen Konstellation auf Tour zu gehen.
Aber wenn man es genau betrachtet, arbeite ich schon seit vielen Jahren so und weiß daher, wie so etwas abläuft. Trotzdem ist es jedes Mal anders, es ist eine andere Zeit, eine andere Gruppe, es sind andere Menschen. Und selbst dann, wenn man unterwegs immer wieder die gleichen Orte ansteuert, ist alles anders, da sich ständig auch die Zeiten ändern. Ich denke das Wichtigste ist, darauf zu achten, dass man Spaß hat, dass man lernfähig und offen für Neues bleibt. Insofern lerne ich ständig dazu.
Könntest du mal erklären, wie, wo und wann du deine Songs schreibst? Gibt es eine bevorzugte Tageszeit, brauchst du eine spezielle Situation? Sammelst du zunächst Riffs oder sind zuerst die Texte und Melodien da?
Es ist im Grunde so, wie es immer war – ich spiele einfach Gitarre, probiere Dinge aus und stolpere dabei über Ideen, die ich interessant finde. An ihnen arbeite ich dann weiter, bis daraus ein Song entstanden ist. Auf jeden Fall beginnt alles mit einer Instrumentalversion, erst dann entstehen die Gesangsmelodien. Die Texte kommen in der Regel zuletzt. Dieser Prozess hat sich bewährt und ändert sich eigentlich kaum.
Ich schreibe nicht durchgängig, obwohl das früher, also in meinen jüngeren Jahren, vermutlich der Fall war. In meiner Arbeit existieren verschiedene Phasen, eine davon besteht aus dem Schreiben, dann kommen die Aufnahmen und schließlich die Tourneen. Natürlich sind alle drei Phasen miteinander verbunden, aber jeder einzelne Schritt steht für sich, und jeder ist anders.
Auf deinem neuen Album sind unter anderem mit Duff McKagan, Robert Trujillo und Mike Bordin berühmte Kollegen zu finden. Nach welchen Kriterien suchst du deine Gäste generell aus?
Ich arbeite gern mit Menschen, mit denen ich eine gemeinsame Vergangenheit habe. Und ich mache gern Musik mit Freunden. Wenn man sich meine vier Platten anschaut, die ich außerhalb von Alice In Chains aufgenommen habe, stößt man auf alle meine Freunde; Musiker, die ich seit Jahren kenne, die ich respektiere und bewundere und zu denen ich enge persönliche Beziehungen habe.
Bei Alice In Chains ist es im Grunde dasselbe Muster. Wir alle sind wie eine Familie eng miteinander verbunden. Mit vielen Musikern auf ‚I Want Blood’ habe ich schon häufig zusammengearbeitet, sowohl auf meinen eigenen Platten als auch bei ihren Projekten.
Daher weiß ich, dass wir gut zusammenpassen. Ich hatte mir schon gedacht, dass ‚I Want Blood’ ein guter Song für Duff sein könnte. Und ich fand, dass ‚Vilified’ gut zu Robert passen könnte. Aber so genau weiß man das vorher nie. Man kommt in einen Raum und probiert es einfach aus. Ich hatte das große Glück, dass eine Menge meiner Freunde, die auch eigene Bands haben, gerade Zeit hatten. Es war reines Glück, dass alles so gut gepasst hat.
Hast du deinen Mitmusikern die kompletten Songs vorgestellt oder waren sie an den Arrangements beteiligt?
Ich würde sagen beides. Wenn ich komponiere, entstehen bereits ziemlich konkrete Entwürfe; Demos der Songs mit meinen Vorstellungen, wie sie vermutlich am besten funktionieren. Doch dann ist es immer wieder interessant und überraschend, wie andere Leute das Ergebnis beurteilen und wie sie ihre eigenen Ideen einbringen. Davon kann ein Song natürlich nur profitieren. Das Resultat ist letztendlich eine Mischung aus dem, wie alle Beteiligten interagiert haben, wie wir gemeinsam klingen.
Du fertigst also komplette Vorproduktionen von den Songs an, mit programmierten Drums, ausgearbeiteten Bass-Parts, bereits detaillierten Rhythmusgitarren?
Wie erwähnt erstelle ich eine Demoversion, die ich präsentieren und mit der man arbeiten kann. Ich muss vorher wissen, ob der Song funktioniert und etwas taugt, er muss also mindestens bis zu diesem Punkt vorbereitet sein, sodass ich sagen kann: So ist es gut, das sollten wir aufnehmen!
Und dann stelle ich das Ergebnis denen vor, mit denen ich arbeite. Ich erstelle also ein Modell, und dieses Modell sollte zumindest zeigen, ob daraus möglicherweise ein guter Song werden kann. Trotzdem funktioniert es manchmal nicht. Aber meistens ist es so: Wenn man sich in der Demophase schon ziemlich sicher ist, kann es eigentlich nur noch besser werden.
Es heißt, dass Led Zeppelin, Pink Floyd, Black Sabbath und Van Halen die Helden deiner Jugend sind. Würdest du sagen, dass man auch auf deinem neuen Album immer noch diese Einflüsse hören kann?
Ich kann nicht wirklich beurteilen, welche Einflüsse die Leute in meiner Musik hören. Ich glaube, jeder Künstler ist irgendwie immer ein Mischmasch seiner Einflüsse und auch seiner selbst. Dazu zählen vielleicht noch nicht einmal nur Musiker und Bands, das können auch Filme, Kunst oder Fotografie sein, aber auch Weltereignisse, Menschen, Beziehungen.
Aber die großen Bands, die du erwähnt hast, treffen alle zu und gelegentlich kann ich selbst hören, wie sie aus mir herausfließen. Es gibt allerdings noch viele andere, die man vielleicht noch gar nicht erwähnt hat, auch aus ganz unterschiedlichen Musikstilen.
Hast du nach einer so langen internationalen Karriere immer noch eine emotionale Verbindung zu den Songs deiner frühen Musikerjahre? Oder wunderst du dich mitunter selbst, wie du vor fast 40 Jahren gespielt und geklungen hast?
Das ist eine merkwürdige Frage. Natürlich fühlt man sich mit all seinen Songs verbunden.
Manche Musiker, die auf eine lange Karriere zurückblicken, sagen: Einige Songs, die ich vor vielen Jahren geschrieben habe, klingen für mich heute so, als stammten sie von jemand anderem.
Ich sehe heute vieles möglicherweise aus einer anderen Perspektive. Ich bin 59 Jahre alt, also keine 24 mehr, wie damals, als wir mit Alice In Chains ‚Facelift’ veröffentlicht haben. Aber ich habe noch eine Verbindung zu der Person, die ich mit 24 war, als wir die Platte aufnahmen, und auch immer noch eine Beziehung zu der Zeit, als ich diese Songs spielte.
Ich verstehe, worauf deine Frage abzielt. Es ist kreative Arbeit und wir spielen weiterhin Songs aus den Anfängen unserer Karriere, bis hin zu den Stücken unseres jüngsten Albums. Wir haben Spaß dabei, und viele Menschen genießen es, wenn wir diese Songs spielen.
Kommen wir auf dein aktuelles Equipment zu sprechen: Sind deine Hauptgitarren immer noch die G&L Rampage und die Gibson Les Paul?
Ja. Es sind die zwei Instrumente, mit denen ich mich besonders wohlfühle, sowohl vom Sound her als auch vom Handling und von der Spielbarkeit. Gleichzeitig sehe ich mich als Handwerker. Wenn ich einen Hammer brauche, nehme ich mir keinen Schraubenzieher.
Es kommt ganz darauf an, was man für den Job braucht. Aber was sich gut anfühlt, hat wahrscheinlich eine Verbindung zu mir als jungen Musiker. Ich weiß noch, als ich nach einigen Jahren mit miesen Gitarren und schlechten Kopien zum ersten Mal die G&L Rampage in die Hand bekam und dachte: Das fühlt sich genau richtig an, diese Gitarre muss ich kaufen. Und genau das tat ich. Ich spiele also auch heute noch die beiden Gitarren, die ich vor vierzig Jahren in Dallas, Texas, gekauft habe.
Bild: Dan Virchow
Seit 40 Jahren die Gitarre seiner Wahl: G&L Rampage
Bild: Dan Virchow
G&L Rampage und Gibson Les Paul, das bedeutet, du warst immer schon schwerpunktmäßig der Humbucker-Typ?
Wahrscheinlich schon, zumindest meistens. Wie schon gesagt, ich bin Handwerker, wenn ich also für einen ganz bestimmten Ton einen Single Coil brauche, dann benutze ich ihn. Auf ‚I Want Blood’ gibt es im Song ‚Throw Me A Line’ ein tolles Riff mit einer Art Billy-Gibbons/Tony-Iommi-Vibe, das einen Single-Coil-Pickup benötigte, um diesen bestimmten Buzz hinzubekommen.
Generell mag ich, quasi als Blaupause, die Frankenstein von Eddie Van Halen, eine super simple Gitarre mit einem unfinished Hals. Ich mag Ebenholz-Griffbretter, einen Humbucker, einen Volume-Poti, ganz einfach.
Und wie sieht es bei dir mit Amps aus? Eher Röhre oder eher digital?
Egal, was immer man benötigt, um den Job zu erledigen. Beides hat Vor- und Nachteile. Digital geht natürlich alles viel schneller, es gibt mehr Optionen und Einflussmöglichkeiten. Analog dagegen hat einen altmodischen Vibe, mit viel Kompression und Rauschen, was man nur schwer reproduzieren kann. Deshalb verwende ich im Studio beides.
Auch auf der Bühne?
Ich habe beides ausprobiert. Wie schon gesagt, ich sehe mich als Handwerker und verwende diejenigen Werkzeuge, die in der jeweiligen Situation notwendig sind. Meistens sind sie analog, aber ich habe auch schon digitales Equipment verwendet.
Bogner 4×12″-Cabs (Bild: Dan Virchow)
Unterscheidet sich dein Live-Sound von dem im Studio?
Ich bin sehr verlässlich darin, wie ich Dinge mache. Ich präsentiere den Song so, wie er in seiner besten Form sein sollte. Ich bin auch kein großer Jam-Musiker oder Blues-Experimentator.
Bei mir gibt es keine 14-minütigen Blues-Solos, Jam-Experimente oder Jazz-Abenteuer. Erstens kann ich das gar nicht, und zweitens mache ich meine Dinge so, wie ich sie mag, heißt: Einen Song so zu spielen, wie ich ihn geschrieben habe und wie ihn das Publikum kennt. Ich habe Songs komponiert, zu denen Menschen eine Verbindung aufgebaut haben, und möchte sie möglichst so spielen, wie sie bei den Fans im Kopf und im Herzen sind.
Bild: Dan Virchow
Soundzentrale: Bogner Fish All Tube Preamps und Fryette Two/Ninety/ Two Endstufen
Bild: Dan Virchow
Talkbox, Rotovibe, Wah – alles von Dunlop bzw. MXR
Bild: Dan Virchow
MXR Smartgates und Poly Blue Octave, ein handwired Ibanez Tube Screamer, Boss CE-5, der EVH/MXR Flanger und das Line 6 MM4
Bild: Dan Virchow
Noch ein MXR Smartgate, MXR EQs, Rotovibe, Strymon Ola Chorus/Vibrato, Barber Direct Drive, MXR Timmy und Boss DD500