Rolling Stones in jünger

Interview: The Temperance Movement

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Altersmäßig trennen beide Bands geschätzte 40 Jahre, künstlerisch dagegen nur ein gefühlter Wimpernschlag: Seit ihrem überragenden 2013er Debüt gelten The Temperance Movement als heißester Kandidat für die Nachfolge der Rolling Stones. Kein Wunder also, dass die Herren Jagger, Richards & Co. ihre jungen britischen Kollegen einmal selbst unter die Lupe nehmen wollten und sie persönlich als Opener zu ihren Konzerten in Berlin und Wien einluden.

Gut zweieinhalb Jahre liegt dieses aufsehenerregende Ereignis zurück. Seither ist viel Wasser die Themse hinuntergeflossen, haben sich The Temperance Movement personell verändert und musikalisch weiterentwickelt. Ihr zweites Album ,White Bear‘, das im Januar 2016 erschienen ist, transportiert den Rhythm & Blues der späten 60er- und frühen 70er-Jahre in die Gegenwart, hat aber eine größere Portion Aktualität bekommen und klingt dadurch noch eigenständiger. Und auch wenn Teilen der Presse eventuell die ganz großen Überraschungen auf ,White Bear‘ gefehlt haben mögen, sind The Temperance Movement auch anno 2017 die heißeste neue Rock-Band Englands. Wir trafen ihre Mitglieder Paul Sayer (Gitarre), Nick Fyffe (Bass) und Matt White (Gitarre) bei einem Konzert im Hamburger Club Übel & Gefährlich und ließen uns von ihnen die Entstehungsgeschichte der Band und ihre interessante Philosophie erklären.

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The Temperance Movement sind 2013 ohne große Vorankündigung zu einer echten Overnight Sensation avanciert. Woher stammt ihr und was habt ihr vor der Gründung der Band gemacht?

Paul Sayer: Die Gruppe hat sich 2011 in London gegründet, alle Mitglieder arbeiteten vorher viele Jahre lang als Session-Musiker für einige namhafte Künstler, ich beispielsweise unter anderem für Ray Davies oder Just Jack. Zwischen meinem Abschluss an der Musikhochschule und der Gründung von The Temperance Movement stand ich also quasi im Dienst anderer Acts.

Nick Fyffe: In meinem Fall war Jamiroquai der erste wirklich große Job, davor hatte ich nur als Bassist in kleineren, eher unbekannten Bands gespielt. Das Engagement bei Jamiroquai war für mich eine Art positiver Schock, der insgesamt fünf Jahre anhielt. (lacht) Anschließend wechselte ich zu Pixie Lott, mit der ich häufig auf Tournee war.

Matt White: Wie schon Paul erwähnt hat, war auch ich als Session-Musiker unterwegs. Insgesamt habe ich sieben Jahre mit James Morrison gespielt, darüber hinaus aber noch für diverse andere Künstler.

Weshalb habt ihr überhaupt eine neue Band gegründet, wenn ihr bereits gut im Geschäft wart?

Paul Sayer: Natürlich hat man als Berufsmusiker vor allem das Ziel, von seinen Jobs leben zu können. Zum Glück hatten wir diesen Status bereits erreicht. Doch dann fängt man an, sich neue Ziele zu setzen und neue Herausforderungen zu suchen. Und diese bestehen meistens darin, dass es einem nicht mehr egal ist, mit welcher Art Musik man sein Geld verdient. Man möchte etwas machen, das einem selbst gefällt. Vermutlich träumt jeder Musiker davon, mit seinem Job Geld zu verdienen. Aber der eigentliche Traum ist, seinen Lebensunterhalt mit einer Musik bestreiten zu können, die man wirklich liebt. Als junger Musiker nimmt man natürlich jedes Engagement an, was ja auch wichtig ist, um sich in diesem Metier zu etablieren. Aber wenn man das geschafft hat, steckt man sich halt andere, höhere Ziele. Außerdem habe ich festgestellt, dass man als Sessionmusiker im Grunde genommen nie so klingt, wie man es gerne möchte, sondern immer so, wie es vom Auftraggeber erwartet wird.

Hattest du denn bereits einen eigenen Sound, bevor du Studio-Musiker wurdest?

Paul Sayer: Das genau ist es, was ich meine: Man kann einen eigenen Stil gar nicht erst entwickeln, wenn man immer nur fremdes Material spielt. Bei The Temperance Movement schreibt uns niemand vor, wie wir zu klingen haben. Unser Sound kommt aus uns selbst. Session- Musiker spielen immer das, was die Setliste vorgibt, oder was der Produzent verlangt. Bei The Temperance Movement dagegen geht es um Kunst, um die eigene Kreativität.

Nick Fyffe: Wow, gut erklärt!

Wie lange hat es anfangs gedauert, bis sich zwischen euch fünf Individualisten ein homogener und eigener Band-Sound entwickelte?

Nick Fyffe: Aus meiner Sicht war der eigenständige Sound vom ersten Moment an da. Das ist ja auch der Grund, weshalb wir sofort so begeistert waren. Wir trafen uns in einem Proberaum und spielten die Stücke, die Paul, Phil (Campbell, Sänger der Band) und Luke (Potashnick, Gitarrist der Band bis 2015) geschrieben hatten, es klang sofort unglaublich gut und eigenständig. So gesehen mussten wir am Band- Sound überhaupt nicht schrauben, sondern er war von Beginn an automatisch da.

Was waren die wichtigsten Lektionen, die ihr als Session-Musiker gelernt hattet und die euch dann bei der Gründung von The Temperance Movement halfen?

Matt White: Man weiß aus Erfahrung, welche Fehler man nicht machen darf und wie man sich verhalten muss, damit eine Sache erfolgreich werden kann.

Zum Beispiel?

Matt White: Wirf kein Geld zum Fenster heraus, vor allem nicht in Territorien, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind! Dreh jeden Geldschein zweimal um und versichere dich, dass er gut angelegt ist, damit es der Band weiterhilft und nicht einfach nur rausgeworfen wird!

Paul Sayer: Darüber hinaus gibt es wichtige emotionale Regeln, die man unbedingt einhalten sollte. Tourneeleben ist purer Stress. Ich habe Musiker erlebt, die sich aufgrund von Nichtigkeiten völlig überworfen haben; Dinge, die zwei Wochen später schon überhaupt keine Rolle mehr spielten. Ich habe auf Tournee so etwas des Öfteren erlebt und weiß deshalb, wie man in solchen Momenten reagieren sollte, wie man den nötigen Abstand zu Dingen behält. Die Geschichte der Rock-Musik zeigt, dass mitunter die talentiertesten Bands an vermeintlichen Problemen zerbrochen sind, die man mit ein wenig Abstand sehr leicht hätte lösen können. Bislang sind wir von solchen Problemen verschont geblieben, aber wenn sie sich eines Tages vor uns auftürmen, wissen wir, wie wir damit umzugehen haben und wie man nach dem Ende einer Tournee erst einmal wieder runterfahren und Druck aus der Situation nehmen kann, um sie dann vernünftig zu klären.

Ein Erfolgsrezept, das offenkundig auch für die Rolling Stones zu gelten scheint. Sind sie euer großes Vorbild?

Paul Sayer: Die Rolling Stones sind in der Tat das Paradebeispiel, wie man eine Band zusammenhält. Das ist es auch, was Keith Richards uns bei den gemeinsamen Konzerten empfohlen hat. Er sagte: „Was immer passiert, haltet die Band zusammen!“ Das mag jetzt auf den ersten Blick wie eine Plattitüde klingen, aber je mehr man darüber nachdenkt, um so mehr Bedeutung bekommt dieser Satz. Denn der Grund, weshalb die Rolling Stones heute die größte Rock-Band der Welt sind, liegt neben ihren zweifellos großen Hits in der Tatsache, dass sie immer noch als Gruppe existieren. Aus der Ära, aus der die Stones stammen, gibt es ansonsten keine weitere Band mehr. Sie alle haben sich aufgelöst oder bestehen nur noch aus Musikern, die mit der Originalbesetzung kaum noch etwas zu tun haben. Für mich ist dies das Faszinierende an den Stones, mehr noch als all ihre großen Hits. Jeder von ihnen hätte längst sein eigenes Ding durchziehen können, abgesehen davon, dass keiner der Beteiligten überhaupt noch Geld verdienen müsste. Aber sie haben durchgehalten, ohne dabei irgendwelche übermenschlichen mentalen Kräfte zu besitzen.

Die Stones scheinen aber nicht nur hinsichtlich ihrer Haltung, sondern auch musikalisch großen Einfluss auf euch zu haben. Euer Rhythm-&-Blues- Anteil ist ähnlich hoch wie bei Jagger, Richards & Co.

Paul Sayer: Diese Tatsache können wir sicherlich nicht abstreiten.

Nick Fyffe: Bei den Opener-Konzerten mit den Stones wurde es dann ja auch für jedermann deutlich. Allerdings kommen bei uns noch viele andere Einflüsse zum Tragen, nicht nur die der Stones. Aber von ihnen gefragt zu werden, ob wir im Vorprogramm auftreten wollen, war natürlich das Beste, was uns passieren konnte.

Euer sehr lebendiger Studio-Sound ist auffallend. Wurden die beiden Alben komplett live eingespielt?

Paul Sayer: Ja, zumindest überwiegend. Wir haben einfach alle Instrumente im gleichen Raum aufgebaut und die Songs frei, also ohne Click-Track, eingespielt. Es gab maximal vier Takes, von denen meistens der zweite am besten klang. Anschließend gab es nur einige wenige Overdubs, weshalb der Gesamt-Sound so lebendig klingt. Es wurde so wenig wie möglich editiert, es war und ist Live- Musik, auch im Studio.

Bestand deshalb für euch die wichtigste Aufgabe darin, die Stücke vorher intensiv zu proben?

Nick Fyffe: Ehrlich gesagt gab es vorher kaum reguläre Proben …

Paul Sayer: Auch das ist ein Resultat unserer langjährigen Tätigkeit als Session- Player. Wir sind in der Lage, neue Songs sehr schnell gemeinsam auf den Punkt zu bringen.

Nick Fyffe: Das Ziel war, so viel Energie wie möglich einzufangen. Wir hatten keine Angst davor, Fehler zu machen. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir dann am besten spielen, wenn wir nicht übermäßig intensiv geprobt haben. Man hört einem neuen Songs die Begeisterung der Beteiligten im Studio an, denke ich. Deswegen versuchen wir, ein neues Stück so früh wie möglich einzufangen. Aber es gibt immer nur einen kurzen Moment, in dem man die Begeisterung der Musiker für einen neuen Song einfangen kann, und diesen Moment versuchen wir zu treffen. Wichtig dafür ist allerdings die richtige Umgebung, in der man sich wohlfühlt.

Und der richtige Produzent.

Paul Sayer: Wir haben unsere beiden bisherigen Alben mit einem Typen namens Sam Miller aufgenommen. Sam ist ein großartiger Toningenieur, er erkennt den richtigen Moment, den es einzufangen gilt. Dadurch lastet natürlich sehr viel Verantwortung auf seinen Schultern, denn für ihn geht es nicht um die perfekte Technik, sondern darum, den Moment zu erkennen, an dem alle Beteiligten diese Begeisterung in sich spüren.

Ist Sam mehr Engineer oder eher doch euer Produzent?

Paul Sayer: Manche Menschen denken, dass der perfekte Produzent nach dem Einspielen die Aufnahmen aufbereitet, die richtigen Sounds findet, und so weiter. Und sie denken, dass derjenige, der nur den Knopf drückt, kein richtiger Produzent ist. Aber die Wahrheit ist eine andere. Denn ein wirklich guter Produzent erkennt die richtige Situation zum Aufnehmen. Insofern haben wir allein in der Band bereits fünf Produzenten. Sam war bei ,White Bear‘ in den gesamten Produktionsprozess involviert, daher lässt sich nicht mathematisch aufteilen, wer nun was genau gemacht hat. Dieses Album ist das Resultat eines Prozesses, an dem sechs Personen beteiligt waren.

Nick Fyffe: In manchen Situationen ist es einfach hilfreich, jemanden dabei zu haben, der nicht direkt zur Band gehört. Jemanden, der auf der anderen Seite der Scheibe sitzt und den Musikern nach drei oder vier Durchläufen sagt: „Ich finde, der zweite Take war perfekt.“

Letzte Frage: Gibt es schon Planungen für ein drittes Album?

Nick Fyffe: Ja, es gibt bereits Planungen, und ja, es existieren auch schon neue Songs.

Paul Sayer: Wir haben bereits angefangen, neue Musik zu schreiben, allerdings gibt es noch keinen Studiotermin. In dieser Band dreht sich alles um Songs, deswegen komponieren wir permanent. Für mich beginnen die Arbeiten an einem neuen Album in dem Augenblick, in dem wir uns Gedanken über den nächsten Schritt machen. Aktuell denken wir bereits an das nächste Album, was im Januar 2016 noch nicht der Fall war, als es nur darum ging, ,White Bear‘ auf die Bühne zu bringen. Aber jetzt, zehn Monate später, sind unsere Gedanken bereits auf die kommende Scheibe fokussiert.

Danke für das Interview und viel Erfolg weiterhin!


Aus Gitarre & Bass 05/2017

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